: Weiß und schwarz
Die drückende Last der Geschichte und die schützende Höhle der Kunst: Richard Powers‘ meisterhaft komponierter, aber leider auch bestürzend rückwärts gewandter Familienroman „Der Klang der Zeit“
VON KOLJA MENSING
In Europa wurde sie gefeiert, aber in der Hauptstadt ihres Heimatlandes durfte sie nicht auftreten. Die Constitution Hall sei ausgebucht, teilte man Marian Anderson in Washington mit und wies diskret darauf hin, dass sich das für schwarze Sängerinnen auch in der nächsten Zeit nicht ändern würde. Die Absage löste einen öffentlichen Skandal aus, aber erst als Eleonor Roosevelt sich persönlich einmischte, fand man einen Kompromiss: ein Freiluftkonzert. 75.000 Besucher kamen daraufhin am Ostersonntag des Jahres 1939 nach Washington. Marian Anderson sang „O mio Fernando“, „Ave Maria“ und „Gospel Train“ – und begann ihr Programm mit „America the Beautiful“.
Richard Powers hat dieses historische Konzert an den Anfang seines neuen Romans gestellt und lässt vor dem Lincoln-Denkmal zwei Menschen aufeinander treffen, für die es 1939 eigentlich keine gemeinsame Zukunft gibt: die Schwarze Delia Daley und David Strom, den blassen jüdischen Physiker und deutschen Emigranten. Obwohl „interracial marriages“ in einem Drittel der amerikanischen Bundesstaaten unter Strafe stehen, heiraten die beiden nur wenige Monate später, verzaubert vom Glauben an eine Musik, die keine Hautfarbe kennt. „Der Klang der Zeit“ heißt dieser Familienroman, mit dem Richard Powers sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, auf 800 Seiten und verschiedenen Zeitebenen nicht weniger als die amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts entlang von Musik und Kultur, Rasse und Identität zu erzählen. Hier ist sie also: die „great American novel“ der Saison, mit prominenten Gastauftritten von Albert Einstein, Miles Davis und Martin Luther King.
Während Powers rund um seine unmögliche Ehe Massen von Material anhäuft – Schuberts „Erlkönig“, die Rassenunruhen in Watts, die Paradoxien der Relativitätstheorie –, entspinnt sich vorsichtig ein erzählerischer Faden. Es ist die Geschichte der Kinder von David und Delia, die ihre schwarze Mutter und ihren weißen Vater immer wieder fragen, was sie selbst nun eigentlich seien. „Weiß UND schwarz“, antworten ihre Eltern ihnen, und während sie abends gemeinsam singen, beschwören sie ein Leben, in dem „Farbe nicht zählt“. Natürlich ist das ein Irrtum, den Powers mit den Exkursen in die schwarze Geschichte Amerikas von der Verhaftung Angelo Herndons im Jahre 1931 bis zum verhängnisvollen Freispruch im Fall Rodney King rund 60 Jahre später belegt: „Strom und seine Frau haben sich verrechnet; mit ihrem allzu großen Optimismus waren sie ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus.“
Jonah, der Älteste der drei Geschwister, ist ein Gesangstalent, und obwohl er eine Generation nach Marian Anderson geboren ist, wird er das Gleiche erfahren wie sie: dass man die richtige Stimme, aber die falsche Hautfarbe haben kann. Während seine Schwester Ruth, die lieber „richtig schwarz“ wäre, ihn mit jedem Jahr mehr dafür hasst, dass er der „Kultur des weißen Mannes nachläuft“, begleitet sein Bruder Josef ihn auf dem Flügel – und führt als bescheidener Erzähler durch den Roman: „Ich bin nur der Klavierspieler.“ Irgendwann wird Jonah sich nach Europa flüchten, Ruth mit den Black Panthers im Untergrund verschwinden – und Jonah in einer Bar in Atlantic City Beatles-Songs klimpern. Für die Kinder der Stroms gibt es keine Zukunft. Nur ein bisschen Gegenwart und viel Vergangenheit.
Natürlich ist „Klang der Zeit“ kein schwarzer Roman. Er ist durch und durch weiß, genau wie sein Autor, der in Illinois als Kind eines Highschool-Lehrers geboren wurde. Die schwarze Geschichte Amerikas, vom Bürgerkrieg bis zum „Million Men March“, von W. E. B. du Bois über Malcom X bis zu Louis Farakhan, ist für Richard Powers genau wie die Musik, die sich praktisch durch jeden Satz seines Romans zieht, nur ein Hilfsmittel, um sich zunächst zu einem ganz anderen Punkt vorzuarbeiten: dem kulturellen Trauma des weißen Amerikas. Als Josef seinem Bruder Anfang der Fünfzigerjahre auf das Konservatorium in Boylston folgt, das in den USA als „letztes Bollwerk der europäischen Kultur“ gilt, ist eine seiner ersten Lektionen die Etymologie des Schimpfwortes „Mulatte“, in dem sich das zeugungsunfähige Maultier verbirgt. Jonah und Josef, die beiden hoch begabten Mischlinge, werden so zum Ausdruck jenes „kulturellen Minderwertigkeitskomplexes“ Amerikas. Powers beschreibt, wie das Land, das sich als „größte Kulturnation der Nachkriegszeit“ empfand, neidisch auf die Ruinen Europas schielte und in Boylston und anderswo Bach, Beethoven und Berg verehrte: „Das waren die großen deutschen B’s, die Namen, die in die Marmorsockel gemeißelt waren … Die ernste Musik Nordamerikas – auch Copland und Still – galt hier bestenfalls als Ableger der europäischen Tradition.“
Die amerikanische Angst vor der kulturellen Zeugungsunfähigkeit wurde nicht nur durch die Blicke in das alte Europa, sondern auch auf die schwarze Kultur im eigenen Land geschürt. Powers lässt Jonah, der weder richtig weiß noch schwarz ist, zwischen seinen gefeierten Auftritten als junger Tenor immer wieder in die Nachtclubs New Yorks rennen, wo er John Coltrane und all die anderen hört – und den Beweis dafür findet, „dass dieses Land sehr wohl eine eigene Musik hatte“. Auffällig ist allerdings, dass Richard Powers diesen Gedankengang nicht weiterführt. Die Songs der Hitparaden mit ihren schwarzen und weißen Wurzeln, die Filme, Comics und Fast-Food-Restaurants, die Amerika innerhalb von wenigen Jahren zu einer äußerst einflussreichen Kulturnation gemacht haben, interessieren ihn nicht. Jazz und Soul werden eher beiläufig gestreift, in den Siebzigern wird in den Augen seines Erzählers vor allem der „Krieg der lauten gegen die leise Musik“ geführt, und dem HipHop begegnet Joseph später mit einer Mischung aus Ablehnung und Dünkel. Als sein Neffe ihm Ende der Achtziger Dr. Dre und die World Class Wreckin’ Cru vorspielt, setzt er sich ans Klavier und spürt zwischen den schleppenden Beats mit ein paar Handgriffen eine Bachfuge auf: „Nenn mir eine einzige Melodie, die noch nicht gestohlen ist.“
Richard Powers ist erklärtermaßen kein Freund der Popkultur. Nach dem 11. September beklagte er in der New York Times, dass die meisten Menschen in den Anschlägen auf das World Trade Center vor allem Kinobilder sahen. Gegen dieses Übel, die Welt nur durch mediale Metaphern zu erfassen und so die Repräsentation von Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln, möchte Powers eine „slow art“ setzen, eine langsame, der Zeit entzogene Kunst. Bereits in seinem Roman „Schattenflucht“ (dt. 2002) hatte er davon erzählt, wie in einem amerikanischen Thinktank an einer digitalen Bilderkammer gearbeitet wird, auf deren Wänden sich das gesamte kunstgeschichtliche Erbe der Menschheit der Menschheit spiegeln soll: eine Höhle, in die der Mensch sich vor der Wirklichkeit in die sichere und beständige Welt der Kunst flüchten kann. In „Schattenflucht“, das Ende der Achtzigerjahre spielte, hielt dieses Bollwerk zuletzt den anstürmenden Nachrichtenfluten aus Moskau, Tokio und Berlin nicht stand. Im „Klang der Zeit“ errichtet Richard Powers es nun aufs Neue. Allerdings auf einem 800 Seiten langen Umweg.
Zunächst ist es natürlich die Musik, in die die Menschen in diesem Roman sich aus der Gegenwart flüchten: Marian Andersons Altstimme, die in Washington kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs noch einmal ein anderes, besseres Amerika preist, die jiddischen Volksgesänge, Gospels und Kunstlieder, mit denen Delia und David im Wohnzimmer eine „eigene Nation“ begründen wollen – und später Jonah, der mit seiner Engelsstimme Dowlands „Time stands still“ interpretiert und damit bei einem Vorsingen selbst den Programmdirektor der Met zu Tränen rührt und ihn seinen professionellen Zynismus vergessen lässt. Doch natürlich kann die Musik im 20. Jahrhundert keine ihrer Versprechen halten. Die Zeit steht nicht still. Powers lässt die Melodien immer wieder im Crescendo der Nachrichtensendungen untergehen, in denen von Hiroschima berichtet wird und Bilder von den Rassenkrawallen in Alabama und Mississippi, Lynchmorden, Attentaten und Napalmbombardements gezeigt werden. Es herrscht „Krieg. Totaler, unablässiger, ewiger Krieg“, oder wie der Physiker David Strom es mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sagt: „Wachsende Unordnung: Das ist das Maß der Zeit.“
Etwas schnoddriger drückt er es an einer anderen Stelle aus: „Zeit heißt einfach nur, dass eine bescheuerte Sache nach der anderen passiert.“ Doch auch wenn David zuletzt einsehen muss, dass die Musik die Uhr nicht mehr zurückdrehen kann, hält er sich bis zuletzt an den Gleichungen seines Kollegen Kurt Gödel, der in Überstimmung mit der Allgemeinen Relativitätstheorie in den „Randbereichen der Gravitation“ eine „Verletzung der Kausalität“ zumindest theoretisch für möglich erklärte: „Die Zeit verläuft nicht geradlinig, sondern ist möglicherweise gekrümmt.“ Erst ganz am Schluss dieser breit angelegten Romanpartitur, als die Stimmen der Musik und der Physik bereits ausklingen, merkt man, worauf Richard Powers eigentlich hinauswill: auf die Literatur. Der Roman nämlich, das hat er in Interviews immer wieder betont, ist heute die einzige Kunstform, die es dem Menschen erlaubt, aus der Zeit herauszutreten: the real slow art. Spätestens wenn er sich auf den letzten Seiten von „Der Klang der Zeit“ endgültig von den Gesetzen der Kausalität verabschiedet und zu einem gewagten Quantensprung ansetzt, wird deutlich, dass dieser meisterhaft komponierte, zuweilen sehr rührende und dabei doch bestürzend rückwärts gewandte und reaktionäre Roman nicht von Schwarzen und Weißen, von der Musik, von Familien oder von der drückenden Last des Geschichte erzählt, sondern allein von der Sehnsucht, sich noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, in die schützende Höhle der Literatur zurückzuziehen.
Dass diese Form des Kulturkonservativismus hoch im Kurs steht, wissen wir spätestens seit Jonathan Franzens Siegeszug mit den „Korrekturen“ und den angehängten Essays „Anleitung zum Einsamsein“. Verblüffend ist eigentlich nur, dass wir heute hier in Deutschland, im Herzen des alten Europas, begeistert diese altmodischen und doch zutiefst amerikanischen Romane lesen – und ansonsten auf den Fernseher starren, der uns beinahe täglich mit neuen Schreckensnachrichten über „America the Beautiful“ beliefert. Es ist ein Irrtum, dass man die Zeit verlassen könnte. Es passiert einfach nur alles gleichzeitig. Wie in einem Roman.
Richard Powers: „Der Klang der Zeit“. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer, Frankfurt am Main 2004, 764 S., 24,90 €