: Hass auf Hamburg
Susanne Bienwald hat mit Hans Erich Nossack einen Literaten portraitiert, der im geistfeindlichen Klima Hamburgs gedieh. Und mit Friedrich Hebbel einen gefunden, der rechtzeitig entkam
VON MAXIMILIAN PROBST
Wie sich’s gehört, reden wir erst mal übers Wetter. „Ein Freund von mir“, sagt Susanne Bienwald, „ist Extremsportler, aber Fahrradfahren im Nieselregen: nee.“ Sie ist zu Fuß in die Bäckerei gekommen, gegenüber der Grindelhochhäuser. „In denen ist noch ein Paternoster in Betrieb, mein Sohn geht da öfter mit Freunden hin“, erzählt sie.
Eins erzählt sie nicht, ich lese es in ihrem Buch „Hans Erich Nossack“ später: dass der Schriftsteller den Paternoster als Parabel verwendet hat; in der Erzählung „Unmögliche Beweisaufnahme“, laut Bienwald „einer der großartigsten deutschen Texte überhaupt“. Dort heißt es: „Man steht auf dem Sprung, der ganze Körper ist angespannt, und wenn die nächste Stufe sich nähert, zuckt man bereits probeweise mit einem Fuß vor. Doch im letzten Moment reißt man sich zurück und wartet lieber eine noch tiefere Etage ab.“
Klar: Wir sind ängstlich, wir sind zögerlich, und unser Schicksal ist auswegslos. Für Nossack trug dieses Schicksal den Namen Hamburg. „Ich bin woanders nicht glücklicher, das gibt es nicht“, schreibt er ins Tagebuch, „aber in Hamburg habe ich mehr als anderswo das gehabt, was man Unglück nennt“.
Mitte der 50er Jahre, nach dem Konkurs der vom Vater übernommenen Kaffeefirma, zog der 1901 geborene Schriftsteller aus Hamburg fort, endgültig, wie er hoffte, wo es doch nun mal unmöglich sei, „zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein“. Und kehrte doch keine 15 Jahre später in die Heimatstadt zurück. „Um 12 Uhr fährt der Zug nach Hamburg. Worte entwürdigen das Unglück“, notierte er vor der Reise.
Bei der Schriftstellerin Bienwald ist von diesem Paternoster-Pessimismus nichts zu spüren. Einsteigen, Umsteigen, Aussteigen scheinen die ihr vertrautesten Formen der Fortbewegung durchs Leben zu sein. In Eutin geht sie auf eine Mädchenschule, den Leistungskurs Physik belegt sie in der Jungenschule. Im 800 Meterlauf stellt sie den Schleswig-Holsteinischen Landesrekord auf, trainiert für Olympia, macht ein brilliantes Abi – und schreibt sich in den freien Studiengang Philosophie ein. Zwei, drei Jahre zieht sie zwischendurch in Europa herum, nicht zum studieren, zum arbeiten. Hier als Erntehelferin, dort als Kellnerin. Bevor sie sich an die Abschlussarbeit über ihre literarische Jugendliebe Nossack setzt, holt sie noch schnell Pädagogik nach. 13 Scheine in einem Semester, wahrscheinlich auch ein Rekord, der genauso viel über Bienwald wie über das Niveau der Uni Hamburg aussagt.
Das Referendariat am Wilhelmgymnasium hat sie abgebrochen. Die Dissertation über Nossack auch. Stattdessen hat sie einen Film gedreht über Nossack. „Ich hatte einen Auftrag vom SWR, ich hatte überhaupt keine Ahnung, ich habe es einfach gemacht“, sagt sie. Auf dem Münchener Dokufilmfest gewann „Innenleben eines Außenseiters“ den Publikumspreis.
Bienwald machte anschließend mit dem Hamburger Ungeist Bekanntschaft. Nach dem Preis flatterten Einladungen von Literaturhäusern aus allen Ecken der Republik auf ihren Schreibtisch. Aus Hamburg meldete sich keiner. So war es Nossack schon ergangen. „Während mir Heinemann und Genscher Telegramme aus Bonn schicken, so hat sich hier vom Senat oder anderen Behörden kein Schwein etwas merken lassen“, schreibt er nach Entgegenahme des Büchner-Preises.
Nossack konnte mit seinem Hamburg-Hass wunderbar anknüpfen an ein großen Vorgänger: an Friedrich Hebbel. Der kam nach einer beklemmenden dithmarschener Jugend 1835 nach Hamburg, um auf der Gelehrtenschule Johanneum, in die später auch Nossack gehen sollte, seine Bildung zu vervollständigen.
Bienwald hat auch dieses Kapitel der hamburgischen Kulturgeschichte aufgearbeitet. Und natürlich zeigt ihr vor kurzem erschienenes Buch „Friedrich Hebbel und Hamburg“ die Hansestadt im gewohnt tristen Licht. Der junge Hebbel flucht schon bald über die vor „Geldaristokratie strotzende reiche“ Stadt. Er bleibt Fremdkörper. Nach entbehrungsreichen und konfliktgeladenen Jahren verlässt er die Stadt. Als seine Freundin und Förderin Elise Lensing, mit der er ein Kind hat, um seine Rückkehr bittet, antwortet er: „Eine Folterkammer ist doch kein Asyl!“
Geliebt zu haben in Hamburg scheint Hebbel nur das „Franschbrot“, das „du mitzubringen nicht vergessen darfst“, schreibt er Elise einmal aus der Ferne. So wie Nossack nichts so sehr geliebt hat wie den Wartesaal des Dammtor-Bahnhofs, in dem er später Tag für Tag die Zeitung las.
Und Bienwald? Zeigt sich mit der Hamburger Kofmichkultur versöhnt: „Die erste, die das Nossack-Buch gekauft hat, war die Handelskammer.“ Derzeit sitzt Bienwald über ihren Erstlingsroman, und so bewahrt sie sich vorsichtshalber einen Rest von Zweifel an Hamburg: „Der Amoklauf kann ja noch kommen.“