american pie
: Das Horrorszenario von Athen

Die Anti-Doping-Agentur der USA heftet sich hartnäckig an die Fersen der Sprinterin Marion Jones, diese beteuert ihre Unschuld

„Jetzt ist Amerika an der Reihe, als böser Bube der Olympischen Spiele aufzutreten“, schrieb unlängst der San Francisco Chronicle. Spät, aber dafür umso drastischer hat sich in den USA herumgesprochen, dass es auch mit der Dopingmoral nicht zum Besten steht im Lande der Bushs und Rumsfelds. Skandale der Vergangenheit wie der um den vielfach positiv getesteten Kugelstoßer C. J. Hunter, damals Gatte der sprintenden und springenden Goldschürferin Marion Jones, waren noch nahezu spurlos an der US-amerikanischen Öffentlichkeit abgeperlt. Das Böse, so viel stand fest, hauste im Osten, nach wie vor.

Die Affäre um die kalifornische Dopingbrutstätte Balco hat diese Sichtweise nachhaltig verändert. „Favoriten auf Gold in der Disziplin moralische Indifferenz“ nennt der Chronicle nun die Leichtathleten der USA. Das Horrorszenario der Funktionäre sieht jetzt so aus, dass etwa ein Sprinter in Athen als strahlender Sieger durchs Ziel stürmt und am nächsten Tag zu Hause im Rahmen der Balco-Ermittlungen als notorischer Doper überführt wird. Dies zu verhindern hat sich die im letzten Jahr gegründete Anti-Doping-Agentur USADA zum Ziel gesetzt. Sie versucht, jene Sportler, denen Verbindungen zu Balco nachgesagt werden, zum Verzicht auf Olympia zu bewegen, oder – noch besser – ihnen Geständnisse abzuringen.

Im Falle der ehemaligen Doppelweltmeisterin von Paris 2003, Kelli White, war diese Strategie erfolgreich. Konfrontiert mit Dokumenten und anderen Beweismitteln aus den Balco-Razzien, gab die Sprinterin zu, in den vergangenen Jahren Epo und das Designer-Steroid THG von Balco erhalten zu haben. Die 27-Jährige wurde für zwei Jahre gesperrt, ihre Ergebnisse seit Dezember 2000 aus den Listen getilgt. Die beiden Titel von Paris hatte sie schon vorher verloren, weil sie dort der Einnahme des Stimulanzmittels Modafinil überführt worden war. Kelli White entschuldigte sich nicht nur bei „Freunden, Familie und dem Sport“ für ihre „schlechten Entscheidungen“, sondern erklärte sich auch bereit, bei der Überführung anderer Athleten mitzuwirken, genau so, wie es sich die USADA wünscht.

In Sportlerkreisen populär geworden war die Firma Balco zunächst mit ihren zinkhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln, zu den Kunden zählten zahlreiche berühmte Sportler wie etwa der Baseballspieler Barry Bonds oder der Boxer Shane Mosley. Während das Steroid THG durch die Indiskretion eines Leichtathletiktrainers enttarnt wurde, entsprangen die meisten anderen Enthüllungen, wie schon bei den europäischen Radsportskandalen, nicht dem sportlichen Testsystem, sondern polizeilichen Ermittlungen, die hauptsächlich den finanziellen Umtrieben des Balco-Chefs Victor Conte galt.

Eine erheblich härtere Nuss als Kelli White stellen Marion Jones und ihr Lebensgefährte, der 100-m-Weltrekordler Tim Montgomery, dar. Beide standen in Verbindung mit Balco und mussten deshalb vor einer Grand Jury aussagen. Zuvor hatten sie sich durch ihre kurze Zusammenarbeit mit dem einstigen Ben-Johnson-Coach und Dopingpropagandisten Charlie Francis diskreditiert. Belegt ist, dass Jones im Jahr 2000 einen Scheck über 7.300 Dollar an Victor Conte schickte. Laut Zeitungsberichten hat der Balco-Chef zugegeben, Jones bis Herbst 2001 mit Steroiden versorgt zu haben. Contes Anwälte bestreiten diese Aussage.

Marion Jones, die im letzten Jahr eine Babypause einlegte, ist fest entschlossen, in Athen in Sprint und Weitsprung zu starten. „Ich habe nie etwas Verbotenes genommen“, sagte die 28-Jährige, verlangte eine Untersuchung ihrer alten Urinproben auf THG und eine Unterredung mit der Anti-Doping-Agentur. Diese fand am Montag statt, wobei die Agentur einräumen musste, dass die besagten Proben „routinemäßig“ vernichtet wurden. Ohne Geständnis oder positive Probe könne man seiner Klientin nichts anhaben, bemühte Joseph Burton, der Anwalt von Marion Jones, die traditionelle Argumentation. Er sieht „keine Basis für ein weiteres Vorgehen“. Travis Tygart von der USADA ist hingegen überzeugt, dass sich die Zeiten geändert haben: „Mr. Burton liegt völlig daneben.“ Die Auswertung von Dokumenten wie E-Mails, Geldüberweisungen oder Dosierungspläne sowie belastende Zeugenaussagen könnten ergeben, dass jemand als „nicht-analytisch positiv“, also als Doper zu betrachten sei.

Marion Jones hat bereits angekündigt, gegen eine eventuelle Sperre juristisch vorzugehen. Fraglich allerdings, ob die Gerichte mitspielen. Vor wenigen Tagen wurde eine Klage der gesperrten Balco-Kundin Regina Jacobs an die Sportgerichtsbarkeit zurückverwiesen. MATTI LIESKE