Die Machtlose

Niemand wurde so attackiert wie Andrea Ypsilanti. Sie sei machtversessen, heißt es – dabei stimmt eher das Gegenteil. Die Hessin braucht ein Wunder, um die Wahl am 18. Januar politisch zu überleben

AUS FRANKFURT AM MAIN STEFAN REINECKE

Es ist Dienstag, 11 Uhr vormittags. Andrea Ypsilanti sitzt im engen, fensterlosen Raum der Schülermitverwaltung der Schule am Ried in Bergen-Enkheim und wartet. Hier, im Frankfurter Norden, ist sie Direktkandidatin. Heute sollen sich die Parteien den Oberstufenschülern vorstellen. Nur sie ist pünktlich zur Vorbesprechung da. Die anderen Kandidaten kommen zu spät, Janine Wissler von der Linkspartei hat Wichtigeres zu tun und schickt eine Vertreterin.

Der Wahlkreis 39 ist eigentlich fest in CDU-Hand. 2008 hat Ypsilanti trotzdem das Direktmandat erobert. „Das wird diesmal schwierig“ sagt sie und schaut tapfer. Die Schüler haben 150 Fragen aufgeschrieben. Es geht viel um G8, das Abitur nach 12 Schuljahren, das Roland Koch durchgesetzt und damit viele Eltern auf die Barrikaden getrieben hat. Sie klatschen bei dem FDP-Mann, der G8 richtig findet, sie klatschen bei der Linkspartei-Vertreterin, die G8 abschaffen will. Sie sind ein äußerst höfliches Publikum. „G8 ist Oberstress. Ich habe einen 13-jährigen Sohn, ich weiß das“, sagt Ypsilanti. Da klatschen die Schüler ein kleines bisschen mehr. Weil sie ohne Politformeln redet und irgendwie echt wirkt.

Am Montag hat Ypsilanti im Wahlkampf Hausbesuche gemacht. Einfach war das nicht. In vielen Medien wird sie seit Monaten als unfähige, machtbesessene Lügnerin dargestellt. Sie ist eine Art Mülleimer der Nation. „Alles, was wir noch haben, sind unsere Inhalte“, sagt sie. „Das interessiert die Leute noch.“

Am Abend steht sie im zugigen Saal im Goldenen Löwen in Darmstadt-Arheiligen. „Die Zeit ist reif“ steht auf einem Plakat hinter ihr. Das Foto darauf zeigt Andrea Ypsilanti, die sehr jung und sehr optimistisch aussieht. Es ist aus dem letzten Wahlkampf übrig geblieben.

80 Genossen sind gekommen, um den örtlichen SPD-Kandidaten zu unterstützen – und ihretwegen. 80 ist nicht überwältigend, aber auch nicht katastrophal für einen Dienstagabend bei minus zehn Grad. Als ihr Name fällt, applaudieren die Genossen trotzig und energisch. Das Zerrbild von Ypsilanti –machthungrig und skrupellos – gibt es draußen, im Spiegel und in Bild. Hier im Goldenen Löwen ist sie die Genossin Andrea, die von der Basis geschätzt wird wie kaum sonst jemand. Zweimal steht sie auf und lächelt, froh und eins mit sich selbst.

Ypsilanti trifft noch immer den Ton. Sie ist keine glänzende Rhetorikerin. Aber sie kann komplexe Themen in klaren Sätzen schwungvoll ausdrücken. Sie sagt, dass es ein Skandal ist, dass in Hessen Kinder schon in der dritten Klasse in Gymnasium und Hauptschule selektiert werden. „Kein Kind darf zurückbleiben“, ruft sie. Das versteht jeder. Dafür lieben die Genossen sie, noch immer. Sie ist keine Intellektuelle, eher eine Übersetzerin. Sie transformiert komplexe politische Themen ins Alltägliche, Lebenspraktische. Und sie vermittelt der Partei, die vor allem seit der Agenda 2010 nicht mehr weiß, wofür sie eigentlich steht, das Gefühl, dass klar ist, wo es langgeht. Sie entwirft die Vision von einer besseren Welt. Das kann sie – handfest, und ohne weltfremd zu wirken. Diese Fähigkeit war der Treibstoff für ihren Aufstieg.

Und für ihren Abstieg. Ypsilanti ist sich in ihrer Selbstwahrnehmung treu geblieben. Sie wollte immer das Gleiche: Energiewende, bessere Bildung, mehr Gerechtigkeit. Deshalb hat sie, gegen ihr Versprechen, mit der Linkspartei kooperiert. So ganz versteht sie bis heute nicht, warum sie in ein paar Monaten von einer leuchtenden Hoffnung der SPD zum Synonym für alles Grauen in der Politik geworden ist. Im Spiegel steht, dass sie Thorsten Schäfer-Gümbel seinen Erfolg missgönnt, dass sie an Amt, Macht und Dienstwagen klebt. Dabei hat sie die Macht um der Macht willen nie interessiert. Sie war fixiert auf „die Inhalte“, die sie wie ein Mantra vorträgt. Sie wollte zu viel zu schnell. Dabei hat sie ihr Kapital, ihre Glaubwürdigkeit, verspielt. Das ist ihr Drama, nicht Machtversessenheit. Jetzt geht es ihr wie Kurt Beck. Jeder darf sie in den Medien bashen, Belege braucht man nicht. Sie ist die Verliererin. Richtig machen kann sie sowieso nichts mehr. Das mediale Dauerfeuer hat sie mitgenommen. Ihr innerer Schutzwall ist löchrig geworden.

Warum dieser Absturz? Wir sitzen in einem Bistro in Bad Vilbel. Kein Tuscheln am Nebentisch, kein verwunderter Blick des Kellners. Offenbar hat man sich in Hessen an die Allgegenwart von Politikern im Wahlkampf gewöhnt. „Es sind noch 40 Prozent unentschlossen, und dabei sind viele SPD-Wähler“, sagt sie hoffnungsfroh. Doch wenn die SPD am Sonntag unter 30 Prozent bleibt, wird jemand für die Niederlage verantwortlich gemacht werden – sie. Das ist das Gesetz des Betriebs.

Sie braucht ein kleines Wunder, um den 18. Januar politisch zu überleben. Das sagt sie nicht in die Mikrofone missgünstiger Journalisten. Aber sie weiß es. „Ich habe schon oft in meinem Leben neu angefangen“, sagt sie. Und lacht.

Die Machtmaschine Koch wird am Sonntag wohl triumphieren, Ypsilanti wird wohl untergehen. Sie wird fehlen.