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Archiv-Artikel

Die neuen Zonenkinder

Junge, noch in der DDR geborene Autoren und Autorinnen plagen sich nicht mit deutsch-deutscher Identitätspolitik herum, sondern stellen das Originelle und Spezifische ins Zentrum ihres Schreibens

Tetzlaffs und Richters Bücher zielen auf Verständigung versus DissensMlynkec’ Stil ist eine Wohltat im Vergleich zu den vielen zarten Femmes fragiles

VON SUSANNE MESSMER

Die DDR war niedlich. Eine Kleinbürgeridylle, ein Glück in der Datsche, ein einziges Fröhlichsein und Singen mit Schlagersüßtafel und Spreewaldgurke. So ungefähr will es vierzehn Jahre nach der Wende das kollektive Bild – zumindest nach dem gesamtdeutschen Triumph von Kinokassenschlagern wie „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin!“ sowie den Ostalgieshows. Auch ostalgische Wir-Bücher schmeicheln diesem Bedürfnis nach Annäherung, Abgrenzung und ähnlicher Identitätspolitik – Bücher einer Generation, der Jana Hensel mit ihrem Buch „Zonenkinder“ den Namen gab, einer Generation, die in der DDR geboren und in der BRD erwachsen geworden ist. Und auch wenn diese neue Niedlichkeit den Konsens der Neunzigerjahre verdrängt hat, die DDR sei ein Land der Täter, Opfer und Mitläufer gewesen. Auch wenn sie endlich den Blick auf eine DDR freigelegt hat, die auch Gesellschaft war und Alltag: Man hat das Gefühl, dass es reicht mit dem detailverliebten Blick, dass er erfasst ist, der putzige Mikrokosmos der DDR.

Schaut man sich die Bücher der neuen „Zonenkinder“ an, die in dieser Saison erschienen sind, dann scheint es, als ginge es ihnen ganz ähnlich, als könnte es nun wirklich langsam vorbei sein mit dieser DDR von Sigmund Jähn und „Sandmännchen“. Sieht man von Nachzüglern ab wie Michael Tetzlaff mit seinem Buch „Ostblöckchen“ (Schöffling & Co., Frankfurt am Main) oder Peter Richter mit seinen „Blühenden Landschaften“ (Goldmann, München), plagen sich junge, in der DDR geborene Autoren und Autorinnen immer weniger mit Identitätspolitik herum als vielmehr damit, vordergründig die verlorene Vergangenheit zu archivieren – sie spielen höchstens noch kokett mit Klischees und Zuschreibungen. Ariane Grundies, Julia Schoch und Kerstin Mlynkec aber geht es, je jünger sie sind, viel mehr um die großen Themen: um Liebe, Leidenschaft, Ennui und Exzess, Melancholie, Widerstand, Verzweiflung und Tod. Spielt die DDR noch eine Rolle, wird sie bis auf die bekannten Besonderheiten beschrieben wie jede andere Gesellschaft auch: als ein Land, gegen das man literarisch antreten kann, ohne dabei pathetisch werden zu müssen.

Beginnen wir mit den Nachzüglern. Oberflächlich wirken die autobiografischen Sachbuch-Romane von Michael Tetzlaff und Peter Richter wie Verständigung versus Dissens. Während Michael Tetzlaff in knapp vierzig kurzen Geschichten, die zuerst als Kolumnen in der Frankfurter Rundschau erschienen sind, noch einmal seine unbeschwerte Jugend im Osten hervorkramt, hält es Peter Richter lieber damit, den Kulturkampf zwischen Ost und West, wie er ihn nach seinem Umzug von Dresden nach Hamburg Anfang der Neunzigerjahre erleben durfte, in den Dreck zu schreiben. Trotzdem haben beide Bücher Entscheidendes gemeinsam: Beide hätten, wenn sie nicht so damit beschäftigt wären, das große Andere in Szene zu setzen, wunderbare Geschichten erzählen können.

Die Geschichten, die Michael Tetzlaffs Buch gerade noch retten, handeln zum Beispiel von der Provinz. Endlich einmal wird das Dorf nicht als dröge, sondern als viel aufregender als das Stadtleben beschrieben. Wo wenig los ist, kommt man mit Milieus in Kontakt, denen man in der Stadt selten begegnet. Etwa mit Hettrich, eine der farbigsten Gestalten aus „Ostblöckchen“: „Er fuhr seinen Riesendachschaden den ganzen Tag mit dem Traktor durch den Ort und rammte alles, was ihm im Weg stand.“ Oder Rudelfix: „Wenn ihm im Laden jemand blöd kam, zog er sein Gewehr und jagte den Übeltäter durchs Dorf.“ Schade, dass witzige Momente wie diese bei Michael Tetzlaff verschütt gehen – verschütt unter dem albernen Titel, unter dem tantenhaften Humor, unter Schulausflügen in sozialistische Bruderländer, unter Ferienlagern und Jugendweihen. All das hatte man bei den „Zonenkindern“ schon hundertfach.

Weil man sie so leid hat, all diese Anekdötchen aus dem „Ostblöckchen“, wirkt Peter Richters „Blühende Landschaften“ zunächst wie ein Befreiungsschlag. Richter definiert die Riten der Ossis wie der Wessis als Produkt der Wende und der Inszenierung wechselseitiger Fremdelei. Er erinnert an den Spott, der sich über Zonengabi ergoss, als sie eine Gurke schälte, wie man sonst Bananen schält. Er erzählt, wie in den Neunzigerjahren immer mehr Westler nach Prenzlauer Berg zogen und sich eine „ursprünglichere, reinere und richtigere“ DDR bauten, die es so nie gab. Und er verweist darauf, wie die Westler den Westen wieder besser fanden, als der Reiz des Exotischen verflogen war.

Interessante Fragen werfen sich auf: Waren die Vorhersagen von den flexiblen Ostlern als neue „Avantgarde“ (Wolfgang Engler) oder „kulturelle Gewinner“ (Jens Bisky) auch nur ein Tief im großen, zyklischen Auf und Ab der gegenseitigen Etikettierungen? Wird auf die Ostalgie der Westler wieder Zynismus folgen? Trotzdem: Die Türen, die Peter Richter so draufgängerisch einrennen will, sind längst aus allen Angeln. Neu wäre es gewesen, hätte er sich an eine andere Geschichte gehalten, die man so leider nur noch im Subtext seines Buchs findet: Wie er als Ostler im Westen Karriere machte – die Geschichte eines sozialen Aufstiegs also, wie sie doch nur selten gelungen ist.

Etwas wirklich Neues bieten dagegen drei Bücher mit fiktiver Prosa von Ariane Grundies, Julia Schoch und Kerstin Mlynkec. Fast noch interessanter als die Kurzgeschichten von „Schön sind immer die anderen“ (Piper, München) selbst ist: Die DDR spielt bei Ariane Grundies keine Rolle mehr. Ihre Figuren stehen meist an irgendwelchen Klippen und haben irgendeine „Sehnsucht nach der Ferne“, wissen aber nicht so genau, wo die sein soll. Man folgt ihnen gern, den ratlosen Patricias und Ramonas, Babettes und Manuelas, und gerade weil man sie kaum auseinander halten kann und sie ebenso aus dem Westen sein könnten wie aus dem Osten, gewinnt man sie lieb.

Julia Schochs unterkühlter Roman „Verabredungen mit Mattok“ (Piper, München) handelt von einem wortkargen Liebespaar, das völlig am Ende ist. Wie gestrandet wirken die beiden, die einander in einem Ostseekurbad begegnen, wo gerade ein Tankerunglück passiert ist. Alles scheint auf einmal mindestens ebenso zähflüssig wie das Öl, das den ganzen Strand verseucht und die Touristen verjagt. Je mehr um sie herum in Bewegung gerät, je geschäftiger die Helfer über den Strand hetzen und verklebte Vögel verarzten, desto unwirklicher und aufgesetzter erscheint Claire und Mattok das Ganze.

Nur ein einziges Spiel scheint das Paar einmal kurz aus seiner Trance holen zu können: das mit der Gefahr. Mattok gerät nur in hellste Aufregung, wenn er Claire vorschlägt, mit ihm die Grenze nach Osten zu überqueren. Dass es da gar keine Grenze mehr gibt, dass man auch kein Visum mehr braucht, hält ihn nicht davon ab, die Flucht zu inszenieren. Während man noch rätselt, ob Claire oder Mattok Ossis sein könnten oder Wessis, liefert Schoch die Verbindung zur DDR durchs Hintertürchen. Fast wirkt es, als habe sie durch ihr Thema die Patin der DDR-Literatur, Christa Wolf, ins Heute retten wollen: Wie bei Wolf sind Schochs Figuren krank, doch hat ihre Krankheit keinen eindeutigen Grund mehr, es gibt keine Schuldigen, keinen Staat, an dem es sich sinnvoll zugrunde gehen ließe. So schreibt es sich heute über Verzweiflung, ohne ins anklagend Theatralische abzurutschen.

In der fiktiven Biografie „Drachentochter“ (Rowohlt, Berlin), dem Debüt der 1958 geborenen Kerstin Mlynkec, einer älteren Schwester der „Zonenkinder“ quasi, spielt die DDR noch eine größere Rolle: Beschrieben wird der Werdegang eines jungen Mädchens, das sich so gegen ihr asoziales Umfeld wehren muss, dass das Land, in dem dies alles passiert, wie ein müder Abklatsch der eigentlichen Feinde wirkt. Ein paar Jahre lebt das Mädchen glücklich bei seiner sorbischen Oma, dann aber wird es von der aggressiven Mutter in Jugendheime, Besserungsanstalten und zum überforderten Vater geschoben. Doch ist es nicht nur die Härte dieser Geschichte, die mitnimmt – es ist auch der überbordende Stil Kerstin Mlynkec’, der besonders dann ins Fantastische abdreht, wenn es körperlich wird. Da sackt nicht einfach eine in sich zusammen, sondern „ihre Arme fallen herunter wie abgeknallte Schädlinge“. Und wenn eine durch eine Glasscheibe geschubst wird, dann zerteilt es die Betreffende „vom Arsch bis zum Schulterblatt“. Das ist überkanditelt und nervt. Trotzdem ist es eine Wohltat verglichen mit dem hauchigen Stil vieler Autorinnen, die sich in den letzten Jahren als zarte Femmes Fragiles verkauften.

„Drachentochter“ trommelt weder ein Kollektiv der Ostdeutschen herbei noch ruht sich der Roman in einem neutralen Raum aus, in dem alle ratlos sind und weiter nichts passiert. Er pocht auf die soziale Schere, wie es sie überall gibt, auch seinerzeit in einer homogenen, „arbeiterlichen“ Gesellschaft wie der DDR. Wie Ariane Grundies und Julia Schoch hat sich auch Kerstin Mlnykec von der DDR emanzipiert: von der niedlichen wie auch von der schrecklichen. Es kommt nicht mehr auf Schablonen und Projektionen an, sondern auf das Originelle und das Spezifische, auf Figuren, die man beinahe riechen kann. Es wäre schön, wenn damit tatsächlich ein Ende der Identitätspolitik in Sicht wäre.