Afrikas Verführer

Christlich-fundamentalistische Sekten und Pfingstkirchen breiten sich in Afrika aus. Sie versprechen Seelenheil durch Unterwerfung. Sie sind das groteskeste Begleitphänomen der afrikanischen Gesellschaftskrise

VON DOMINIC JOHNSON

Das Gewitter ist außerordentlich heftig an diesem Abend. Über Lagos wollen die dunklen Wolken einfach nicht weichen, kaum ein Mensch wagt sich noch durch die tiefen Pfützen und auch Strom gibt es in den geduckten Slumvierteln natürlich nicht mehr.

Im heruntergekommenen Ziegelbau an der Hauptstraße von Yaba drängen sich die Menschen in der schwülen tropischen Luft ihres kleinen Gebetsraumes. Während der tosende Regen rauscht, erhebt sich aus dem Dunkel plötzlich ein Stimmengewirr durch die offenen Fenster. Erst leise, dann immer kräftiger, bis es schließlich zum Schrei wird, dringt aus dem zweiten Stock ein Heulen und Brüllen nach draußen in die stockfinstere Nacht. Umgeben von Blitz und Donner hat die „Redeemed Christian Church of God“ ihre übliche Gebetsstunde zur Horrorshow ausgedehnt. Im tiefschwarzen Raum, wo draußen Regen und drinnen Schweiß vom Gemäuer perlt, kehren die Gläubigen ihre Seelen nach außen und offenbaren sich dem Heiligen Geist.

Jeden Abend beten die Anhänger der RCCG hier in diesem unscheinbaren Haus, deren Straßenfront eine Sekretärinnenschule angibt. Ein einfacher Raum mit schmutzig-hellblauen Wänden, Holzstühlen in Reihen und nackten Glühbirnen – mehr Erleuchtung gibt es hier nicht. In der Abenddämmerung redet der feiste Prediger laut und schnell auf seine Gemeinde herab, zumeist Frauen und Kinder. Die RCCG ist eine der ältesten und größten der unzähligen Pfingstkirchen und protestantischen Sekten Nigerias – ein Zentrum der weltweit rasant wuchernden, unübersichtlichen und kunterbunten Landschaft christlich-fundamentalistischer Religionsgemeinschaften, die gerade in den zerfallenden Gesellschaften Afrikas Sicherheit bieten wollen. Längst sind sie zu einem festen Bestandteil des afrikanischen Lebens geworden: Die ganztägigen Gottesdienste mit Gesang und Gebet, zu denen aus den Slums die Gläubigen in Festtagskleidung und strahlenden Gesichtern in Parks, Sportstadien und spezielle Großveranstaltungsgelände strömen; die charismatischen Prediger mit Soundsystems wie Rockstars und stundenlangen Tiraden; die Wunderheilungen im Fernsehen.

Die Pfingstkirchen (Pentecostalists), auch charismatische Kirchen oder Erweckungskirchen genannt, sind die schnellstwachsende religiöse Strömung der Welt, nach Angaben der deutschen Sektenexpertin Katharina Hofer mit geschätzt 680 Millionen Anhängern heute, davon 30 Prozent in den USA, und einem anvisierten Wachstum auf 920 Millionen über die nächsten 20 Jahre. Ihr Fundament: die Bibeltreue. Ihr Grundglaube: das individuelle Seelenheil. Ihre Methode: die totale Kontrolle. Die Gesamtzahl der verschiedenen Glaubensgemeinschaften dieser Richtung in Afrika wird auf über 10.000 geschätzt.

Unzählige Geschichten bieten die Kirchen, wie jeder Eintritt in eine von ihnen das Leben verändert. Der eine hat eine feste Arbeit gefunden, der andere ein Visum nach Amerika, einer hat sein Schuldenproblem gelöst, ein anderer dem Alkohol entsagt. Das Rezept ist das uralte Rezept des Protestantismus: Jeder ist selbst für sein Schicksal verantwortlich. In der Bibel steht, wie man es richtig macht. Wer sich daran hält, ist gerettet. Sonst wartet die Hölle. Die Kirche gibt es vor: Halte dich an das, was der Priester sagt; rauche nicht, trinke nicht, begehe keine Sünden, lasse dich nicht verführen; arbeite für die Kirche, und du wirst belohnt, entweder in diesem Leben oder hinterher.

Man muss es miterlebt haben, wie Prediger in irgendeinem Schuppen in der heißen tropischen Luft stundenlang einen einzigen beliebigen Bibelspruch so lange auslegen, bis die komplette Weltlage und sämtliche Grundsätze des richtigen Lebens daraus abgeleitet worden sind, um zu begreifen, wie ausdauernd diese Prediger ihre Gläubigen in ihren Bann ziehen. Würden Politiker so viel Energie und Zeit darauf verwenden, die UN-Menschenrechtscharta oder eine demokratische Verfassung ihren Bürgern zu erklären, wäre Afrikas Demokratie gefestigt. Hier aber festigt sich nur die Gewissheit, dass Gott lenkt und jeder Mensch, der das akzeptiert und sich dem Heiligen Geist öffnet, gerettet werde. „Born Again“ heißt das dann: wiedergeboren. Die Dämonen alter Sünden werden ausgetrieben, die Seele wird Gott zugewandt.

Insofern sind die Sekten eine Begleiterscheinung der von sozialen Verwerfungen begleiteten Modernisierung Afrikas, wo alte Traditionen verblassen, viele Menschen ihren Halt verlieren und nach neuen Gewissheiten suchen. Sie sind vor allem ein Phänomen der wuchernden Metropolen. In Ländern wie Nigeria und Kongo, wo Abstieg und das Elend so allgegenwärtig sind, orakeln diese Kirchen: Du kannst es schaffen. Tu einfach, was wir dir sagen. Dann wirst auch du glücklich. Einen anderen Weg zum Glück sehen diese Menschen nicht mehr. Besonders hoch sind die Beitrittsraten unter besonders geschädigten Bevölkerungsgruppen, wie Völkermordüberlebenden in Ruanda oder Kriegswaisen in Liberia.

Das Christentum des 21. Jahrhunderts wird „größer, jünger, schwärzer, lauter, weicher und leuchtender“, prophezeit der US-Wissenschaftler Danny McCain, selbst Pfarrer. Er führt den Siegeszug der charismatischen Kirchen auf dem Kontinent darauf zurück, dass sie den christlichen Glauben an afrikanische Traditionen anpassen und umgekehrt: sie bieten „eine biblische Version des Übernatürlichen“, nehmen Geisterglauben und Wunderheilungen ernst.

Tatsächlich stehen viele der Pfingstkirchen zu den etablierten Kirchen in einem ähnlich gespannten Verhältnis wie die Demokratiebewegungen zu den etablierten Staaten. Wo die alten Kirchen Prachtbauten und importierte Rituale bieten, integrieren die neuen Kirchen dem Volksglauben – und sei es nur, um ihn in ein umso strengeres Moralkorsett zu zwängen, das den Einzelnen in jeder Facette seines Lebens fordert. Dem kongolesischen Wissenschaftler Sédécias Kakule Kahotole zufolge seien die meisten Pfingstkirchen ursprünglich von Laien gegründet, die in der regulären theologischen Ausbildung keinen Platz fanden. Oft würde sich ein gescheiterter Pfarrer durch göttliche Offenbarung als Chef einer neuen Kirche neu erfinden. „Durch ihre einfache Organisation, ihre Verankerung im Volk ohne jede diözesale Kontrolle integrieren sie die Ausgeschlossenen der etablierten Kirchen“, sagt er.

Das Ergebnis ist augenfällig. Die größte katholische Kirche von Afrikas größter Stadt steht nur wenige Häuser entfernt vom unscheinbaren Gebetszentrum der „Redeemed Christian Church of God“. Die St Dominic’s Church in Yaba, Lagos, ist ein in den 90er-Jahren errichteter Prachtbau mit wunderschönen Fenstern – „von einem Muslim gemacht“, wie ein Priester stolz betont. Aber nur wenige Menschen bewegen sich in den luftigen hellen Räumen. Kein Wiedergeborener würde hier den Fuß über die Schwelle setzen.

Priester Paul Oye sieht in den ungeliebten Nachbarn der RCCG eine Gefahr nicht nur für seine Kirche, sondern auch für die Menschen. „Die Pfingstkirchen predigen das Evangelium, aber ihr wirkliches Ziel ist Geld. Sie appellieren an die Angst. Sie sagen den Leuten, sie sollen für ihre Träume leben. Für sie sind Träume Wahrheit. Wenn also jemand träumt, dass sein Freund ihn vergiften oder sein Vater ihn töten will, ist das wahr und man muss den Kontakt zum Freund oder zum Vater abbrechen. Die Leute werden angehalten, Angst vor ihren eigenen Träumen zu haben. Es ist immer das Böse, der Teufel, der darin am Werk ist. Das macht die Menschen langsam, aber sicher verrückt. Dann heißt es: Wenn du einen Alptraum hast – komm zu uns, wir heilen dich.“

Viele Kirchen haben inzwischen eigene Fernsehsender und strahlen Filme von Wunderheilungen aus, in denen wiedergeborene Christen von ihrem Sündenfall und der Rettung durch den Heiligen Geist berichten. Filme dieser Art aus Nigeria sind inzwischen auf dem halben Kontinent berüchtigt. Aufgeklärte Beobachter mögen sie leicht durchschauen: Da wird ein Straßenkind vor die Kamera gezerrt und erzählt, wie Priester X es von Hexerei befreit und seine Seele gerettet hat. In Kinshasa, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo und eine Hochburg der Sekten, werden daher die shégués, die marodierenden Straßenkinder, als Inkarnation des Bösen verfolgt und zuweilen gelyncht. Alpträume, Angst vor der tiefschwarzen Nacht bei Stromausfall oder vor gewissen Tieren wie Eidechsen und Katzen würden sich bei Kindern ausbreiten, die mit den nigerianischen Filmen traktiert werden, berichtete die kongolesische Zeitung Le Potentiel.

Die neuen Kirchen sind eben nicht bloß Befreiungsbewegungen, sondern Herrschaftsinstrumente. Die stundenlangen Predigten sind nicht Aufklärungsinstrument, sondern Einschüchterung. Die Gläubigen werden im stundenlangen Stehen und nächtelangen Beten mürbe gemacht und tun irgendwann alles, was man ihnen sagt. Auf den Gottesdiensten wird Geld gesammelt, und zwar nicht zu knapp: 100-Dollar-Scheine in die Kollekte zu werfen, ist in Kinshasa Ehrensache. Die Aktivisten der meisten Kirchen müssen einen Teil ihres Einkommens abdrücken. Es funktioniert nach dem Schneeballsystem: Wer neue Gläubige wirbt, steigt auf und profitiert irgendwann selbst. „Sie sagen: Gott ist reich, also wenn man reich ist, ist man Gott nahe“, ironisiert der simbabwische katholische Bischof Pius Ncube, der machtlos mit ansieht, wie sich die korrupte Elite seines Landes mit charismatischen Predigern gütlich die Geschäfte teilt.

Im Grunde ist das auch nur die logische Weiterentwicklung des Protestantismus: Wer Erfolg hat, verdankt dies seiner eigenen Güte. Wem es schlecht geht, der ist böse und selbst schuld. Das ist das Erfolgsgeheimnis der neuen afrikanischen Kirchen. Sie sind Aufsteigerkirchen. Und aufsteigen will jeder. Irgendwann nährt sich der Kreis selbst. Als 2001 die „Redeemed Christian Church of God“ in Nigeria verkündete, dass Gott beschlossen habe, in der Kirche solle es zehntausend Millionäre geben, war dies zugleich ein Ansporn für die Gläubigen und eine Einladung an die Reichen zum Beitritt. Die RCCG, 1952 gegründet, hat „Zwölf Schlüssel zum Wohlstand“ ausgerufen: Erkenne die Souveränität Gottes an; sei zum Reichwerden willig; folge Gottes Willen; gebe; säe; gib von neuem Einkommen den ersten Teil; arbeite hart; vergrößere deine Aufnahmefähigkeit für Segen; bete; bereite dich auf Kampf vor; lobe den Herren; und verbinde dich mit dem Besitzer dieser Schlüssel, also Christus durch seine Kirche. Gleichermaßen wird hier die Selbstbereicherung und die Alimentierung der Kirche miteinander verknüpft, im allerfeinsten Management-Speak.

In Kenia unterhalten charismatische Kirchen private Universitäten und Management-Schulen, in Nigeria sind sie an vorderster Front der Internet-Ausbreitung und der Nutzung modernster Technologie. „Viele Kirchen begannen als Immobilienspekulation“, erklärt der nigerianische Journalist Jahman Anikulapo. „Während der Wirtschaftskrise der 80er-Jahre kauften Spekulanten aufgegebene Fabrikgelände und holten das Geld wieder rein, indem sie dort Gottesdienste abhielten. Dadurch wurden sie reich.“ In Nigeria haben viele Könige der Schattenwirtschaft die Religion neben der Internet-Betrügerei als einträgliche Branche entdeckt. Zuweilen sollen die Leiter beider Branchen sogar identisch sein.

Wie der ghanaische Sektenspezialist Asonzeh Ukah, Autor einer Dissertation über die RCCG, in einer Analyse der Predigten des RCCG-Führers Adeboye ausführt, besteht das „Prosperity Gospel“ dieser Kirchen in einer Perversion des Korruptionsgrundsatzes „von nichts kommt nichts“ – also: für jede Leistung muss man etwas hinlegen, also auch für Gottes Segen, und zugleich zwingt jede Gabe Gott zu einer Gegenleistung. „Die Idee ist einfach und attraktiv“, erklärt Ukah. „Jesus hat schon alles getan, was nötig ist, um die guten Dinge in der Welt zu erreichen. Durch seine Armut und sein Leiden hat er sozusagen einen Kredit angehäuft, von dem wir jetzt frei sind zu zehren, da er sich für uns geopfert hat. Wenn man also arm ist, liegt das daran, dass man nicht gläubig ist.“

Wie zahlreiche ihrer Konkurrenten ist die RCCG zum Wirtschaftsimperium geworden, mit Filialen in anderen Ländern bis hin zu Großbritannien. Sie hat an der Autobahn von Lagos nach Ibadan ein mittlerweile zehn Quadratkilometer großes „Redemption Camp“, wo sie ständig Großereignisse und einmal jährlich einen gigantischen wochenlangen Gottesdienst mit Millionen Teilnehmern ausrichtet – ein Ereignis, zu dem sich auch Wirtschaftssponsoren drängeln. Ihre Führer dürfen in Nigerias Präsidentenpalast Gottesdienste abhalten – Präsident Olusegun Obasanjo, der mit seinem Amtsantritt in freien Wahlen 1999 16 Jahre Militärdiktatur in Nigeria beendete, nennt sich selbst einen wiedergeborenen Christen und seine Machtergreifung wurde von den Pfingstkirchlern als Beweis der göttlichen Macht gefeiert.

Nicht von ungefähr toben in Nigeria heute Afrikas blutigste Religionskriege. Die Erweckungskirche als rebellische Kraft ist durchaus politisch relevant. Metaphern von „Wiedergeburt“ benutzen fast all jene afrikanischen Präsidenten, die durch ihre Machtergreifung einem vorherigen Zustand von Elend und Diktatur ein Ende zu setzen meinten, und nicht wenige von ihnen gehören auch solchen Kirchen an. Francois Bozizé, 2003 per Putsch an die Macht gekommener Präsident der Zentralafrikanischen Republik, ist ein Führer der lokalen Abteilung der in Benin gegründeten „Eglise Christianisme Céleste“. Laurent Gbagbo, Präsident der Elfenbeinküste und Kriegsführer im eigenen Land, stützt sich auf radikale christliche Sektenführer in Abidjan, um die arbeitslose Jugend zu gewinnen und für Milizen zu werben.

Als in Zaire die Rebellen von Laurent Kabila 1996–97 den Kampf gegen die korrupte Mobutu-Diktatur aufnahmen, verbanden die Rebellenführer protestantische Askese mit millenarischen Heilserwartungen. „Wir haben den Teufel vertrieben“, prahlten die siegreichen Kindersoldaten in der zertrümmerten Bar des verwüsteten Stadthotels von Bunia im Frühjahr 1997, als ihre Bewegung gerade im Begriff war, aus dem Osten des Landes den Marsch auf Kinshasa anzutreten. Von neuer Moral, Kampf gegen die „Dekadenz“ und spiritueller Genesung war die Rede; ob das christlich oder maoistisch war, blieb unklar. Später, an der Macht, gaben sie sich den Verlockungen des Fleisches und der Korruption genauso hin wie ihre mobutistischen Vorgänger, und im großen Kongokrieg 1998–2003 waren auf allen Seiten Sekten einflussreich.

Heute sind in Kinshasa, der ärmsten Millionenstadt Afrikas, Priester und Popstars die Jugendidole. Logischerweise hat sich Kongos größter Sänger Papa Wemba der größten Kirchenführerin Maman Elisabeth Olangi angeschlossen, zu deren gigantischen Messen regelmäßig die hohe Politik pilgert. Als der „Erzbischof“ Fernando Kutino der kongolesischen „Siegeskirche“ in Opposition zu Präsident Joseph Kabila ging und Anhänger für eine Aktion „Retten wir den Kongo“ warb, war das Regime höchst alarmiert, die Kirche wurde verboten, Oppositionelle demonstrierten für den „Erzbischof“ und er selbst zog nach Paris. In Kongos heruntergekommener Hauptstadt wimmelt es nur so von Sekten, die die Heilung der Seele versprechen. Die erfolgreichsten ihrer Führer haben sich sogar in die USA ausgedehnt.

„Wieso“, sagte Freddy Shembo, der mit seiner „Mount Carmel Church of God“ aus Kinshasa nach North Carolina gegangen war, auf die Frage eines kongolesischen Interviewers, warum es immer mehr Kirchen und Priester gibt: „Die Leute haben Hunger nach Gott. Wenn es immer mehr Krankenhäuser und Ärzte gibt, ist das doch auch ein Zeichen für Entwicklung.“

DOMINIC JOHNSON, 37, ist Afrikaredakteur der taz