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Archiv-Artikel

Allzu schöne Legenden

Wäre der schwarzen Sache besser gedient gewesen, hätte man die Rassentrennung in den Schulen aufrechterhalten? Unter amerikanischen Bürgerrechtlern ist über diese Frage eine Debatte entbrannt

VON SEBASTIAN MOLL

Wie kaum ein anderer Zweig des Entertainments produziert der Sport rührende Geschichten mit glücklichem Ausgang. Eine der Lieblingsgeschichten des amerikanischen Sports geht so: Branch Rickey, der mutige weiße Besitzer des Baseball-Clubs Brooklyn Dodgers, heuert gegen massive Widerstände im rassisch getrennten Amerika der 40er-Jahre den nicht minder tapferen schwarzen Spieler Jackie Robinson an. Die beiden trotzen allen Anfeindungen – und am Ende siegt das Gute: Die Baseball-Profi-Liga wird gemischtrassisch, Jackie Robinson wird zum Helden der Bürgerrechtsbewegung.

Doch wie alle allzu schönen Legenden hat auch diese ihre Kehrseite: Die schwarze Baseball-Liga, im Besitz schwarzer Unternehmer, geht Bankrott und spült hunderte schwarzer Spieler auf die Straße. Diejenigen, die Verträge im weißen Baseball bekommen, bleiben auf lange Zeit unterbezahlt, obwohl sie für weiße Mannschaften Meisterschaften gewinnen.

War Jackie Robinsons Karriere angesichts dieser Tatsachen ein Triumph der Bürgerrechtsbewegung? Die Antwort ist kompliziert und kaum zu beantworten, wenn man nicht die größere Frage nach dem Erfolg der rassischen Integration in der amerikanischen Gesellschaft stellt. Vor 50 Jahren wurde die Rassentrennung im amerikanischen Bildungswesen aufgehoben und anlässlich dieses Jubiläums wird in den USA derzeit wieder einmal eine feurige Debatte darüber geführt, wie weit das Land bei der Gleichberechtigung der Schwarzen denn tatsächlich gekommen ist. Der Zweite Weltkrieg setzte mit der Mischung der Truppen einen langen, schwierigen Prozess der formalen Gleichstellung in Amerika in Gang. Jackie Robinson steht symbolisch für diesen Prozess, ebenso wie das Urteil des Verfassungsgerichts im Fall Brown vs. The Board of Education, das die Rassentrennung an amerikanischen Schulen für verfassungswidrig erklärte. Doch wie die Geschichte von Jackie Robinson hat auch diese Geschichte ihre Kehrseite. Prominente schwarze Bürgerrechtler wie die Juristen Charles Ogletree und Derrick Bell glauben gar, der schwarzen Sache sei besser gedient gewesen, hätte man die Rassentrennung im Bildungswesen aufrechterhalten.

Nicht zuletzt dank des Urteils ist in den USA eine gebildete und wohlhabende schwarze Mittelschicht entstanden – zu der auch Ogletree und Bell gehören. Sieben Millionen Schwarze sind seit 1970 aus den innerstädtischen Gettos in die wohlhabenden Vororte gezogen. Der Bevölkerungsanteil der schwarzen Haushalte, die mehr als 50.000 Dollar im Jahr verdienen (inflationsbereinigt), ist zwischen 1967 und 2001 von 9,1 Prozent auf 27,8 Prozent angewachsen. Dennoch ist die Bevölkerung in den Gettos der Großstädte noch immer überwiegend schwarz. Millionen schwarzer amerikanischer Kinder, schreibt Bell in seinem pessimistischen Buch „Silent Covenant – Brown vs The Board and The Unfilled Hopes for Racial Reform“, seien nach wie vor ungebildet, arbeitslos und ohne jegliche vermarktbaren Fähigkeiten. Sie gerieten zwangsläufig in den Kreislauf von Kriminalität, Gewalt, Drogen und Verzweiflung.

Angesichts dieser Tatsachen stellen Bell und Ogletree oder auch der schwarze Harvard-Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, an jenem Präzedenzfall festzuhalten, der vor dem Urteil Brown vs. Board in Kraft war. Im Fall Plessy vs. Fergusson aus dem Jahr 1896 hatte das Verfassungsgericht entschieden, die Ausbildung in amerikanischen Schulen solle „getrennt, aber gleich“ sein. Was wäre gewesen, fragen die Integrationskritiker, wenn man in die Qualität der schwarzen Schulen investiert hätte, um dort denselben Bildungsstandard zu erreichen wie in weißen Schulen? „Ich glaube nicht, dass es irgendetwas Magisches an sich hat, mit weißen Leuten zusammen zu sein“, sagt Gates zynisch. „So lange es keine ökonomische Integration gibt, werden die Schwarzen in den Gettos ohnehin unter sich bleiben“, so Gates. Und ökonomische Integration stelle sich über die Qualität der Bildung her, nicht indem man einfach nur Weiße neben Schwarze setzt.

Wie im Baseball vermochte die Aufhebung der Rassentrennung in der Bildung nicht, die ökonomische Ungleichheit zu beseitigen. Die Rassenfrage ist in den USA untrennbar mit der Klassenfrage verwoben und die Bürgerrechtsbewegung streitet sich seit je, von welcher Seite das Problem anzugehen sei. So auch heute. Henry Louis Gates setzt auf Rassensolidarität und glaubt, die schwarze Mittelklasse müsse den Brüdern, die noch im Getto leben, helfen, nachzuziehen. Cornel West, der marxistische Theologe und wilde Mann der schwarzen Bewegung, glaubt hingegen, man müsse dem weißen Amerika die Gefahr klarmachen, die von den unterprivilegierten, ungebildeten und hungrigen Massen ausgeht: „Wir müssen ihnen sagen, Leute, euer ganzes schönes demokratisches Experiment geht den Bach herunter, wenn ihr nicht wirtschaftliche Chancengleichheit schafft. Wir müssen es zu einem Thema der nationalen Sicherheit machen.“ Es klingt wie ein Flüstern, aber da redet tatsächlich einer von Revolution.