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Archiv-Artikel

Karatschis Spirale der Gewalt dreht sich

In Pakistans Hafenstadt kommt es beim Trauerzug für ermordete Schiiten zu neuer Gewalt, doch gibt es über die Ursachen der jüngsten Anschläge nur Spekulationen. So werden westliche Geheimdienste des Mordes am sunnitischen Mufti verdächtigt

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

Die Spirale der Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten hat sich gestern in der pakistanischen Hafenstadt Karatschi wie erwartet weiter gedreht. Denn der Trauerzug für die mindestens 20 Todesopfer des Anschlags vom Montag auf die Imam-Bargah-Ali-Rasah-Moschee geriet außer Kontrolle. Trotz Großaufgebots von Sicherheitskräften brachen hunderte von Teilnehmern nahe der Moschee in Seitenstraßen aus, wo sie Läden zertrümmerten und Autos in Brand steckten.

Für die randalierenden Schiiten war klar, wer das Attentat verübt hatte. Denn für sie war der Anschlag vom Montag lediglich das letzte Glied in einer langen Kette von Gewaltakten vonseiten radikaler Sunni-Gruppierungen gewesen. Der letzte Anschlag, ebenfalls in Karatschi, liegt erst einen Monat zurück. Bereits im vergangenen Jahr kamen bei ähnlichen Angriffen 140 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Schiiten.

Auch das Motiv für den Anschlag ist für viele Beobachter klar auszumachen: Am Sonntag wurde ebenfalls in Karatschi der Mufti Nisamuddin Schamsai erschossen, ein von vielen Muslimen respektierter sunnitischer Religionslehrer. Das Attentat auf ihn passte allerdings nicht in das übliche Schema von gegenseitigen Vergeltungsakten. Denn diese verfolgen normalerweise das Ziel, unter betenden Menschen Terror und Panik zu verbreiten.

Schamsai war auch nicht irgendein wilder Mullah, der die Schiiten etwa als Nichtmuslime brandmarken würde. Vielmehr gehörte er der von Saudi-Arabien geförderten Deoband-Sekte an, die zwar einen radikalen Islam predigt, aber sich nicht gegen die Schiiten richtet.

Dafür ist Schamsai aber ein ausgesprochen politischer Religionslehrer. Im westlichen Materialismus sieht er eine Gefahr für den Islam. Der amerikanische „Krieg gegen den Terror“ sowie der indische Nationalismus sind für ihn Angriffe auf islamische Grundwerte.

Der Taliban-Führer Mullah Omar hatte, bevor er 1996 mit anderen Islamschülern zum Dschihad in Afghanistan aufbrach, Schamsai zu seinen Lehrern gezählt. Dieser hat sich trotz Meinungsverschiedenheiten mit den Taliban nie von diesen distanziert. Auch Ussama Bin Ladens Terrornetzwerk al-Qaida war für Schamsai ein Teil der Armee des Dschihad. In Karatschi zirkulieren daher Vermutungen, dass das Attentat auf die schiitische Moschee den falschen Adressaten traf.

Wer der richtige ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während Massenblätter wie Jang den Mord an Schamsai dem „Krieg gegen den Terror“ zuordnen – sprich: westliche Geheimdienste dafür verantwortlich machen – , verweisen andere auf die ominöse Häufung von Gewaltakten in Karatschi innerhalb des vergangenen Monats. Auf das Attentat gegen die Moschee Anfang Mai folgten nämlich nicht weniger als fünf Bombenanschläge.

Es gebe Kreise, so meinte die Tageszeitung Dawn, die kein Interesse daran hätten, dass sich die Atmosphäre von Gewalt und Unsicherheit in Pakistan beruhigt. Wer diese Kreise sein könnten, darüber schweigt sich die Zeitung allerdings aus.