: Die Ungeduld wächst
aus Basra KARIM EL-GAWHARY
Antonio Gramsci kennt hier niemand. Wenn in der südirakischen Stadt Basra von Gramsci gesprochen wird, dann nicht von dem italienischen marxistischen Vordenker des letzten Jahrhunderts. Gramsci ist einer der großen Beduinenstämme, die sich in der Stadt niedergelassen haben. Dessen Mitglieder sind im Moment weniger mit dem Kampf um soziale Veränderung beschäftigt, als damit, mit einem konkurrierenden Stamm, den Bisanis, zu streiten – mit fatalen Konsequenzen für die Zweimillionenstadt am Schatt al-Arab.
Stammesfehde mit Granatwerfer
Vor vier Tagen fuhr ein Mitglied des Bisani-Stammes mit dem Auto einen Gramcsi-Büffel an. Im lautstarken Schadenersatz-Streit zwischen beiden Parteien wurde eine Gramcsi-Frau schließlich ungeduldig und schoss in die Luft. Die Bisanis, zu deutsch „Katzen“, zogen sich zurück. Kurz darauf kamen sie mit Granatwerfern wieder.
Einziges Opfer des folgenden vierstündigen Feuergefechtes war einer der wichtigsten Stromtransformatoren der Stadt. Er stand zufällig im Weg. Diebe nutzten ihre Chance und holten anschließend die wertvollen Kupferdrähte von den Strommasten, um sie einzuschmelzen und in den benachbarten Iran zu schmuggeln. Seitdem kommt in ganz Basra kein Strom mehr aus der Steckdose. Das Corpus Delicti, der Gramsci-Büffel selbst, hat übrigens leicht verletzt überlebt.
Die britische Besatzungsarmee, die im Süden des Irak offiziell das Sagen hat, hat sich aus dem kleinen Stammesstreit weitgehend herausgehalten. „Um den militärisch zu kontrollieren, hätte man schon ein paar Massenvernichtungswaffen gebraucht“, witzelt man in Basra. Lebhaft erinnert sich jeder hier an den letzten großen Stammesstreit zwischen den Bisanis und Azeriqs, dem vor 15 Jahren 6.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Selbst Saddam Husseins Elitetruppen hatten sich damals nicht getraut einzugreifen.
„Angesichts des politischen Vakuums, das der Sturz Saddam Husseins hinterlassen hat, erfüllen die Stämme heute die Rolle des Staates. Statt Gesetzen haben wir nun wieder das Gewohnheitsrecht der Stämme“, beklagt sich Abbas Hadi Jabar, Chef der Demokratischen Verfassungspartei in Basra. Schwitzend sitzt er in seinem Büro. Wie überall in der Stadt funktionieren hier weder Ventilator noch Klimaanlage. Jeder Stamm habe nun wieder seinen eigenen Kanton in Basra, schimpft Jabar. Die britischen Truppen haben zwar einen Teil der Sicherheitsaufgaben in der Stadt an mehrere tausend von ihnen trainierte irakische Polizisten übergeben. Aber die fühlen sich oft machtlos.
Wenn sie einen Dieb verhaften, kommt kurz darauf ein Vertreter seines Stammes und feilscht um dessen Freilassung. Da kann sich der Polizist – je nach Stärke des Stammes – gelegentlich nicht widersetzen. Sollte einer der neuen irakischen Polizisten, die in den letzten Wochen von den Briten ausgebildet wurden, gar einen Kriminellen erschießen, muss er aufgrund der Blutrache um sein eigenes Leben fürchten. „Die britischen Besatzer behandeln uns wie zur britischen Kolonialzeit 1917 und stützen ihre Herrschaft auf die Stämme. Und das in einem Land, in dem es jetzt über 100 politische Parteien gibt“, sagt Jabar ärgerlich. Er glaubt, dass die britischen Besatzer zögern, mit den politischen Parteien zusammenzuarbeiten, weil sie fürchten, dass sonst im schiitisch dominierten Süden die großen, gut organisierten religiösen schiitischen Parteien den Ton angeben würden. Da greifen die Briten lieber auf alte Kolonialrezepte zurück.
Der Major muss zum Dinner
„Wir müssen eine Balance finden zwischen unserer Sicherheit und der arabischen Kultur“ – so sagt es der britische Major Ian Pole, verantwortlich für die Presse in seinem Basra-Regiment. Man gehe das Ganze mit „Dialog und Offenheit“ an. Mit den Stämmen verbinde die britische Armee ein „gutes informelles Verhältnis“ und, wie es der 31-Jährige weiter beschreibt: „Stammesoberhäupter sind einflussreiche Männer, deren Rat wir annehmen, wenn es uns nützlich erscheint.“ Und dann entschuldigt sich Major Pole und erhebt sich von seinem schattigen Platz im ehemaligen Präsidentenpalast Saddam Husseins, direkt am malerischen Ufer des Schatt al-Arab: Er müsse sehen, dass er noch rechtzeitig zu seinem Dinner kommt.
Scheich Mussna Qanaan ist Oberhaupt des Tamimi-Stammes. In Basra gibt es ein Sprichwort: „Wenn du Ärger mit einem Tamimi hast, dann hast du Ärger mit ganz Basra.“ Also empfahl sich Qanaan für die britischen Besatzer geradezu als natürlicher Kandidat für eine Übergangs-Stadtverwaltung. Nur nebenbei bemerkt: Es war Qanaans Bruder, der vor 15 Jahren die blutige Stammesfehde zwischen Bisanis und Azeriqs schließlich geschlichtet hatte.
Vor sechs Wochen musste der oberste Stammeschef Scheich Qanaan aber dann entlassen werden. Der Grund: Er war früher Mitglied der Baathpartei – „um meinen Stamm zu schützen“, wie er es rechtfertigt. In Bagdad hatte der oberste Militärverwalter, der Amerikaner Paul Bremer, in einem Erlass verfügt, dass es ehemaligen Baathmitgliedern verboten sei, Positionen in den neuen Stadtverwaltungen einzunehmen. Die britische Militärverwaltung fügte sich, wenngleich, wie Qanaan lächelnd erklärt, sie ihn immer noch regelmäßig konsultiert. Manche Dinge in Basra scheinen eben zu wichtig, um sie Mister Bremer im weit entfernten Bagdad zu überlassen.
„Die britischen Besatzer sind flexibler als die Amerikaner und sie hören auf uns, wenn wir ihnen einen Rat geben, schließlich haben sie eine lange Kolonialerfahrung“, führt Scheich Qanaan aus. Aber der verschmitzt dreinblickende Stammesfürst ist doch zurückhaltend, wenn er die Rolle der Stämme einschätzt. Die britische Kolonialzeit in den 20er-Jahren des letzten Jahrhundert sei eben anders gewesen als die heutige. Sicherlich, sagt er, hätten die Stämme immer noch großen Einfluss. Aber das aktuelle politische Vakuum könnten sie nicht füllen. „Wir wollen möglichst schnell eine Regierung mit gut ausgebildeten Technokraten. Davon lassen sich im Irak zahllose finden“, sagt er. Eine Forderung, die von Stammesoberhäuptern, Chefs politischer Parteien oder Technokraten in Basra gleichermaßen zu hören ist. So könnten die Flitterwochen zwischen britischer Militärverwaltung und den großen Stammesfürsten irgendwann ein Ende finden.
Auch im Diwan des Scheich Musen al-Humeidi, eines der Stammesoberhaupter des Bisani-Clans, wird man inzwischen ungeduldig. In dieser Ungeduld ist man sich diesmal sogar einig mit dem verfeindeten Gramsci-Stamm, der ebenfalls eine kleine Delegation vorbeigeschickt hat, um einträchtig mit dem Konkurrenzstamm den angereisten Journalisten bei einer Audienz auf dem Teppich und einem Glas Tee die frustrierende Lage zu beschreiben. „Trotz ihrer ganzen militärischen Macht verhalten sich die Briten nur wie ein weiterer Stamm“, sagt Scheich al-Humeidi enttäuscht. Anstatt ein neues politisches System zu schaffen, vermittelten sie nur zwischen den Stämmen.
„Der ist praktisch schon tot“
Mehrmals kam in seinem Diwan auch ein britischer Major vorbei. An den Namen kann sich keiner erinnern, also wird er allgemein als „Major Mister“ bezeichnet. Die Forderungen der Stammesoberhäupter waren klar: Eine eigene irakische Regierung müsse geformt werden, mehr Stabilität und Sicherheit müsse her. Wenn die Briten das nicht gewährleisten könnten, dann müsse den Stämmen eben erlaubt werden, Waffen zu tragen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. „Major Mister“ sagte yes, yes, yes, zog mitsamt Übersetzer von dannen und ward nicht mehr gesehen.
Also werden die Dinge wieder in die eigenen Hände genommen. Etwa als vor kurzem einer der Bisani-Stammesangehörigen tot aufgefunden wurde – offensichtlich erschossen von jemandem, der an seinem Auto interessiert war. Die britischen Soldaten haben Zeugen vernommen und alles schön aufgeschrieben. Seitdem ist nichts passiert, erzählt Scheich Humeidi. „Jetzt suchen wir nach dem Auto. Und wenn wir es finden“, warnt er, „ist dessen neuer Besitzer praktisch schon tot.“
Scheich Hadi Faradsch vom Gramsci-Clan ärgert sich ebenfalls über die Briten. „Wir haben den Briten geholfen, als sie hierher kamen, weil sie für uns Saddam Hussein losgeworden sind. Aber jetzt wird es Zeit, dass sie eine irakische Regierung bilden und dann nach Hause fahren und Gott sei mit ihnen.“ Wenn sich die Stämme erst einmal gegen die Besatzer erheben würden, dann würden die Besatzer innerhalb von 24 Stunden aus dem Land geworfen, „ohne genug Zeit zu haben, ihre Toten mitzunehmen“. Und dann wird der Scheich geradezu poetisch: „Wir haben sie mit Rosen empfangen, aber wenn unser Frust zu groß wird, könnten sich die Rosen in ihrer Hand irgendwann einmal zu Dolchen in ihrer Brust verwandeln.“ Im ganzen Diwan ist ein zustimmendes Raunen zu hören.