Korruption als Armutsrisiko

Nicaragua liegt auf Rang 121 des Index. Früher wurde Mangel gerechter verteilt

WIEN taz ■ Nicaraguas Rückschritte in der Entwicklung sind mit Händen zu greifen, wenn man die heutige Lage mit den Zeiten der Sandinistischen Revolution (1979–1990) vergleicht. Zahlen belegen das Offensichtliche: Zwar gehört Nicaragua nicht zu den 21 Ländern, deren Entwicklungsindex zwischen 1990 und 2001 gesunken ist. Doch der Gini-Index, der das Missverhältnis des Konsums der je 20 Prozent Reichsten und Ärmsten misst, wurde im Jahr 1998 nur von Brasilien und drei afrikanischen Staaten übertroffen.

Diese ungleiche Verteilung von Einkommen und Lebensqualität wird im Bericht des UNDP als gravierendes Problem angesprochen. Inzwischen dürfte Nicaragua zumindest Brasilien überholt haben. Der Mindestlohn steht zu den Spitzengehältern im Staatsdienst in einem Verhältnis von 1:200. Mit 82,3 Prozent der Bevölkerung, die laut UNDP-Entwicklungsbericht mit weniger als einem Dollar täglich überleben müssen, liegt Nicaragua sogar weltweit an der Spitze. Zum Vergleich: In Lateinamerika nimmt Honduras, lange Jahre entwicklungspolitisches Schlusslicht des Kontinents, mit 23,8 Prozent den zweitschlechtesten Platz ein. Die eklatante Differenz kann nur damit erklärt werden, dass für Honduras die – geschönten – offiziellen Angaben genommen wurden, für Nicaragua jedoch nicht.

Wer seinen Besuch auf die eleganten Viertel der Hauptstadt Managua beschränkt, mag sich von Neonlichtern, eleganten Boutiquen, schicken Einkaufszentren und neuen Hotelbauten blenden lassen. Das Elend der Landbevölkerung, nur wenige Kilometer jenseits der Stadtgrenze anzutreffen, sieht er nicht.

Während der Revolution gab es oft Mangel – verursacht durch verfehlte Politik oder gezielte Sabotage –, doch war das Wenige besser verteilt. Vor allem auf dem Land, wo heute in manchen Regionen afrikanische Verhältnisse herrschen, gab es immer reichlich zu essen. Die Agrarreform sorgte – bei all ihren Fehlern – für die Demokratisierung von Landeigentum. 60.000 Familien – die meisten in Kooperativen organisiert – bekamen rund 850.000 Hektar Acker- oder Weideland. Unter dem liberalen Präsidenten Arnoldo Alemán (1997–2002) wurden die Genossenschaften zerschlagen. Es begann die neuerliche Konzentration von Land in den Händen alter und neuer Großgrundbesitzer. Einer davon war der Präsident selber, der inzwischen wegen Unterschlagung von mindestens 100 Millionen Dollar vor Gericht steht.

Auch der neue Staatschef Enrique Bolaños, der als Kämpfer gegen die Korruption und Fürsprecher des Landvolks angetreten ist, denkt vor allem an sich selbst und seine Günstlinge. Landwirtschaftliche Kredite und Zuschüsse für Bewässerung bekommen praktisch nur Großproduzenten. RALF LEONHARD

Der Autor war bis 1996 Nicaragua-Korrespondent der taz