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Brutale Nähe

Zwischen Empathie und Distanzierung: Claudia Bosses treibt in ihrer Inszenierung von Heiner Müllers „Mauser“ auf Kampnagel das Publikum vor sich her und erschafft einen fast sakralen Raum

von Katrin Jäger

Auf allen Vieren schleicht die junge Frau an eine andere heran. Die sitzt auf einem pastellblauen Hocker, vertieft in Heiner Müllers Mauser-Text. Ganz nah kommt die Schleichende, unangenehm nah, sodass ihr feuchter Atem die Wade der Lesenden streift, vor allem, als sie beginnt, formal und dennoch eindringlich, das zu zitieren, was die Sitzende liest: „Wir töteten ihn, mit meiner Hand. Und der Mund, mit dem ich redete zu ihnen war der Revolver und mein Wort die Kugel. Und es war eine Arbeit wie jede andere.“ Immer hastiger schleudert die Vierbeinige die bekennenden Worte eines Mitmachers heraus. Erst hält die andere die Bedrängnis mit gespielter Teilnahmslosigkeit aus. Plötzlich wendet sie den Blick ab, flüchtet in den weiten Kampnagelraum.

Die Fliehende ist als Zuschauerin zu Heiner Müllers Revolutionsstück Mauser gekommen, das am Mittwoch auf Kampnagel Premiere hatte. Doch die Regisseurin Claudia Bosse ist gnadenlos, mit ihr und allen anderen, die anfangs ganz selbstverständlich ihre Plätze auf der Zuschauertribüne eingenommen haben. Mit den fünfzehn SchauspielerInnen des Nationaltheaters Montenegros und des Wiener theatercombinats treibt sie das Publikum durch die beiden größten Kampnagelräume, die ein breiter Durchgang zu einem arenenhaften Spielfeld verbindet.

Ganz und gar von Licht durchflutet, sprengt dieses Arrangement die Trennung von Akteuren und Publikum, die körperliche Nähe zwingt das Publikum, sich zu positionieren – zu den Darstellenden, zum Raum, zu den eigenen Gefühlen. Ebenso gelungen wie schlicht setzt Claudia Bosse so Heiner Müllers Anweisung um, das Publikum solle die Möglichkeit erhalten „das Spiel am Text zu kontrollieren“. Und während einige Zuschauer sich an das Textheft klammern, werden sie ungewollt zu Akteuren seiner theatralen Umsetzung. Malerisch, wie ein junger Mann an der Wand lehnt, mutig, wie eine Frau im Stöckelschritt die Arena durchmisst. Hin- und hergerissen zwischen Teilnahme und Distanzierung, und damit empathisch verbunden mit dem namenlosen Helden aus Mauser: Einerseits steht er zur Arbeiterrevolution. Andererseits will er nicht mehr töten. Mit der Konsequenz, dass er nach der Revolutionslogik selbst zum Feind wird und damit zu töten ist.

Die SchauspielerInnen strömen als entindividualisierte Masse über das Feld, heben ihre Stimmen zu einem Chor serbisch-englisch-deutscher Mauser-Lithurgie, verwandeln die Halle in einen sakralen Raum. Es ist kein Heldenlied auf die Revolution, das sie da singen. Sie skandieren, flüstern, brüllen und zitieren Müllers Text als brutale, weil direkte Konfrontation mit dem Töten und dem Sterben. „Von trägen Beamten lustlos gefoltert, erfuhr ich nichts über das Leben nach dem Tod“, raunt eine Männerstimme. Dann wieder Schweigen, wie so oft in diesen zwei Stunden. Kein Angebot, wie umzugehen mit dieser Wortwaffe.Natürlich könnten sich jetzt die Zuschauer zusammentun und über Bilder in ihren Köpfen ins Gespräch kommen, gerade jetzt, wo alle die Folterungen im Irak mit sich herumtragen. Doch die Zuschauer schweigen mit, passen sich so einerseits den unausgesprochenen Regeln der Theaterlogik an, vollziehen andererseits den Mauser-immanenten Konflikt zwischen schweigender Anpassung und dem Bedürfnis, von der Regel abzuweichen, nach.

Dieses Schweigen ist Voraussetzung für die vielstimmige Deutung des Texts entspricht Heiner Müllers Theaterverständnis. Ebenso der Rhythmus aus Worten, dem Rennen, des Sprungs gegen die Wand samt Klatschen auf den harten Steinboden. Der dem Stück vorangestellte Vortrag des Bochumer Theaterwissenschaftlers Nikolaus Müller-Schöll über das Schweigen und den Rhythmus in Heiner Müllers Texten verhalf zu einer verfeinerten Rezeption dieser dichten Inszenierung.

Weitere Vorstellungen: 4.+5. 6., 20 Uhr, Kampnagel. Vortrag jeweils um 19.30 Uhr.

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