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Archiv-Artikel

Konkursmasse überzeugt

Das aus der finanziellen Not von Coast geborene Team Bianchi überrascht. Nach knapp einer Tour-Woche scheint es, als könnten Jan Ullrich und seine Kameraden tatsächlich eine gute Rolle spielen

aus Tremont sur Saulx SEBASTIAN MOLL

Rudy Pevenage ist eher als harter Arbeiter und sachlicher Logistiker bekannt denn als Genussmensch. Doch nach dem Mannschaftszeitfahren von St. Dizier trat er mit einem Glas Rotwein in der Hand auf die Terrasse der Auberge de la Source im kleinen Weiler Tremont sur Saulx, blickte in den Abendhimmel der ostfranzösischen Provinz Haute Marne, atmete tief durch und bemerkte bedächtig: „Hier kann man leben, bis 100, nicht wahr?“

Viel Gelegenheit innezuhalten hatte Pevenage in den vergangenen Monaten nicht. Die Überführung des maroden Teams Coast in das Team Bianchi, die aufreibende Bewerbung um die Tour-Teilnahme und die hastig improvisierte Vorbereitung der neuen Mannschaft, all das kostete Nerven und Kraft. Am Mittwochabend jedoch kehrte das Gefühl ein, dass alles gut ist, was Pevenage gemacht hat, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat und dass alle Risiken, die er eingegangen ist, sich nun auszuzahlen scheinen. Dass Jan Ullrich in Form ist, hatte man im Prolog schon ahnen können. Beim Mannschaftszeitfahren aber zeigte sich darüber hinaus, dass auch das Team stark genug ist, um in der Weltspitze mitzuhalten und einen Leader von Ullrichs Qualitäten zu tragen: Ullrich hatte nach dem Mannschaftszeitfahren bloß 38 Sekunden Rückstand auf Lance Armstrong und sich dank seiner Kameraden alle Chancen auf den Gesamtsieg gewahrt.

Das hatten dieser Mannschaft nicht viele zugetraut. Bei der Deutschland-Rundfahrt im Juni noch hatte das Bianchi-Team herbe Kritik eingesteckt, weil es häufig die Übersicht verlor, Attacken verpasste und ihm bei einer Aufholjagd die Puste ausging. Wenn so etwas schon bei der Deutschland-Tour nicht klappt, unkten Kritiker, wie sollte das dann erst bei der Tour de France werden?

Dabei ist die Truppe, die aus der Konkursmasse von Coast übrig blieb, nominell durchaus ein erstklassiges Team. David Plaza hat schon die Deutschland-Tour gewonnen, Angel Casero die Spanien-Rundfahrt, Aitor Garmendia assistierte bereits dem großen Miguel Induráin. Tobias Steinhauser, Ullrichs Freund und Trainingsgenosse, der den Tour-Sieger im vergangenen Winter erstmals zu einer seriösen Saisonvorbereitung motivierte, wurde im vergangenen Jahr Dritter der Deutschland-Tour, Thomas Liese wiederum ist einer der besten Zeitfahrspezialisten Deutschlands. Und Daniel Becke, seit gestern Träger des Trikots für den besten Jungprofi bei der Tour, gilt als eines der großen Talente im deutschen Radsport.

Das Problem schien somit weniger das Potenzial des Teams als dessen Motivation nach all den Unsicherheiten des Frühjahrs zu sein. Vor allem den spanischen Fahrern wurde seit Beginn der Schwierigkeiten bei Coast nachgesagt, lieber heute als morgen einen Vertrag bei einer anderen Mannschaft unterschreiben zu wollen. Doch all das schien mit dem Prolog in Paris vergessen. „Der ganze Hickhack hat uns zusammengeschweißt“, sagt Tobias Steinhauser und fügt an: „Es gibt keine spanische Fraktion, wir sind eine Mannschaft.“ Auch Jan Ullrich findet, die Vorkommnisse des Frühjahrs hätten die Mannschaft eher gestärkt als geschwächt.

Fest steht: Das Team Bianchi glaubt mittlerweile an sich. Rudy Pevenage tut das schon länger. Ihm allein, so Ullrich, gebühre die Anerkennung dafür, dass und wie Bianchi in Frankreich am Start ist. Von Anfang an hatte Pevenage, der sich nach zehn Jahren unter Walter Godefroot von Telekom freigeschwommen hat, die Vision, aus eigener Kraft etwas Neues und Großes auf die Beine zu stellen. „In ein bis zwei Jahren wollen wir mit der Mannschaft zur absoluten Weltspitze gehören“, sagt Jan Ullrich.

Dass nunmehr das gesamte Team Pevenages Projekt trägt und daran glaubt, ist indes auch das Verdienst seines Spitzenfahrers. Jan Ullrich hat sich aller Schwierigkeiten zum Trotz so gewissenhaft wie nie auf die Tour vorbereitet und steht in exzellenter Verfassung am Start. Das zieht die Mannschaftskollegen mit. Noch wichtiger scheint jedoch, dass Ullrich den Ehrgeiz von Pevenage teilt und die Verantwortung dafür mitträgt. Wenn er davon redet, eine Spitzenmannschaft aufzubauen, betont er das Wir“, und man spürt, dass er das auch so meint. „Der neue Ullrich“, wie ihn L’Équipe bereits nannte, ist Kapitän im besten Sinn. Und das macht ihm augenscheinlich Spaß.