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Archiv-Artikel

BERNHARD PÖTTER über KINDER Die lautlosen Familienkiller

Windpockenkinder gehören zum Restrisiko jeder Familie. Quarantäne? Nutzlos. Die Seuche kommt sowieso

Im Fernsehen lief mal wieder „Outbreak“. Dustin Hoffman kämpft mit der US-Armee gegen einen mörderischen Virus, der sich rasend schnell verbreitet. Er trägt einen todsicheren gelben Ganzkörperanzug und hat auch noch seine blonde Exfrau zur Seite. Kurz bevor die US-Armee beginnt, zur Abwechslung mal amerikanische Zivilisten massenweise umzubringen, finden sie natürlich das Gegenmittel.

Am nächsten Morgen hatte Tina überall rote Pusteln im Gesicht. Kein Wunder. Der Kindergarten galt schon seit Wochen als hochgradig kontaminierte Zone. Zu Beginn machte es Tina noch Spaß: Stolz präsentierte sie ihr neues Body-Outfit. Mit der weißen Creme, die den Juckreiz lindern soll, sah sie aus wie vor 20 Jahren mein alter VW-Bus, nachdem wir den Rost abgekratzt und überpinselt hatten: weiße Flecken überall.

Dann wurde es schlimmer. Tina litt unter dem Jucken. Sie hatte Fieber. Sie schlief nicht mehr. Sie wollte weder essen noch trinken, weil auch im Mund und am Po die Pus- teln blühten. Und ich hatte nicht die US-Armee zur Unterstützung. Ich hatte keinen gelben Isolieranzug. Ich hatte nicht mal eine blonde Exfrau.

So litten wir alle vor uns hin. Kinderkrankheiten sind Familienkrankheiten. Dann bricht nicht nur die Immunabwehr von Jonas, Tina und Baby Stan zusammen, sondern auch unser fein ausgeklügeltes Alltagssystem. Denn nur wenn die einen pünktlich im Kindergarten sind, können die anderen ausschlafen, damit wieder andere pünktlich ins Büro kommen, um die einen rechtzeitig abzuholen, während der andere rechtzeitig gestillt sein muss. Familie wird just in time produziert. Unterbrechungen in der Logistikkette führen zum Totalabsturz. Also standen bei uns die Räder still.

Wir hatten allerdings Glück im Unglück. Wir haben Kinderärzte, die nichts von Quarantäne halten. Wir mieden Menschenansammlungen und gingen trotzdem raus. „Das mit dem Einsperren ist doch sowieso Quatsch“, meinte Anna. „Das dient nur der Beruhigung, etwas gegen die Krankheit zu tun.“ In der Tat sind die Viren der Windpocken so ansteckend, dass sie selbst Häuserwände hochklettern sollen – und vor allem schon ansteckend, bevor man die Pusteln sieht. Sobald in der Kita also jemand mit Windpocken zu Hause bleibt, fliegen die Viren schon seit Tagen durch den Raum. Ziemlich clever.

„Ich finde das unverantwortlich“, meinte unser Freund Frank. „Da steckt ihr doch alle Leute an. Wer das nicht als Kind hatte, für den ist es echt gefährlich.“ Schon richtig, aber was soll man tun? Die Kinder in Vorbeugehaft nehmen, weil sie Virenschleudern sein könnten, noch bevor man es sieht? Nur weil jemand in seiner Kindheit nicht unter Kindern war? Nach dieser Logik müsste man die U-Bahn zwischen November und März einmotten (die Grippeviren!) und vor allem Krankenhäuser und Arztpraxen schließen. Seuchentechnisch betrachtet sind das die gefährlichsten Orte des Landes.

„Wir leben in einer Risikogesellschaft“, sagte ich zu Frank. Dauernd gehen wir Risiken ein: Man fährt Auto, raucht ein paar Zigaretten, springt mit dem Bungee-Seil oder investiert in ukrainische Staatsanleihen – aber wehe, es kommt ein Kind mit Windpocken vorbei! Dieses Restrisiko will niemand tragen.

Dabei rechnen wir uns sonst überall die Restrisiken klein: Nach dem Motto „wird schon gut gehen“ oder auch in seiner verschärften, weil empirisch offenbar belegten Form „es ist noch immer gut gegangen“ beruhigen wir unsere Geschmacks-, Geruchs- oder sonstige Nerven: BSE beim Fleischverzehr? Kein Thema mehr. Ein GAU im Atomkraftwerk? Statistisch praktisch unmöglich. Der sabbernde Köter, der in den Kinderwagen schnüffelt? Will doch nur spielen! Windpocken für das Baby, wenn die große Schwester sie gerade durchmacht? Kein Problem, wenn – wie bei uns – das Baby voll gestillt wird und die Mutter als Kind Windpocken hatte. Das Risiko ist zu vernachlässigen, sagen alle.

Zwei Wochen später hatte Baby Stan die Windpocken. Schlimmer als Tina.

Fragen zur Quarantäne? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN