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Archiv-Artikel

Wahrheitssucher

Der estnische Dirigent Paavo Järvi ist neuer künstlerischer Leiter der Kammerphilharmonie Bremen. Ein Gespräch

Der Este Paavo Järvi, 41 Jahre, Grammy Gewinner 2004, Chef d’orchestre des Cincinnati Symphony Orchestra seit 2001, wird Dauergast in Norddeutschland: Der Dirigent ist der neue künstlerische Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Heute gibt er seinen – promodoof als „First Night“ betitelten – Einstand: Eine Gala mit Beethovens Fünfter und Béla Bartóks drittem Klavierkonzert, die live auf Großleinwand auf dem Marktplatz übertragen wird.

taz: Herr Järvi, Sie haben einmal gesagt, sie hielten es nirgends lange aus. Und Sie haben gesagt, dass es in der Orchesterlandschaft an Dirigenten mangelt, die bereit sind, wirklich da zu sein. Ein Widerspruch?

Paavo Järvi: Nein. Ein Missverständnis. Mit der ersten Bemerkung habe ich gemeint, dass ich nicht immer dasselbe machen kann. Ich werde einfach unruhig, wenn nichts Neues mehr kommt.

Ihr Vater und ihr älterer Bruder sind Dirigenten. Hat’s da nicht Rivalitäten und Widerstände gegeben?

Nie. Meine Eltern haben mich nie zu irgend etwas gezwungen. Im Gegenteil: mein Vater hat mir seine unendliche Neugier und seinen Enthusiasmus für die Musik mitgegeben...

Sie haben kürzlich die MusikerInnen der Kammerphilharmonie wegen ihrer „individuellen Profile“ gelobt. Was ist damit gemeint?

Musik wird von Menschen gemacht. Und je mehr Individualität da ist – wie poetisch da eine Oboe herauskommt, eine Flöte – desto differenzierter kann ich arbeiten. Ein Orchester ist keine Armee, auch wenn’s gelegentlich so klingt.

Das heutige Programm wirft Fragen auf: So spielen sie Beethovens Fünfte. Von der hat der Dirigent Michael Gielen behauptet, sie sei wegen des Missbrauchs durch den Faschismus nicht mehr zu retten…

Ich kann sogar verstehen, dass er das gesagt hat. Ein gutes Stück hat ein eigenes Leben, und wir versuchen, bei der Interpretation unsere Wahrheit zu finden. In der Geschichte der Interpretation wächst die Musik immer weiter, sie verändert sich.

Und wie gehen Sie mit dem Klavierkonzert um? Bartóks letztes Werk, geschrieben im Exil, in einer Phase der Depression – ziehen Sie derartige biografische Umstände zur Deutung heran?

Natürlich. Derartige Informationen öffnen mir viele Türen für meine Ideen. Obschon wirklich große Werke auch ohne sie leben können.

Welche Träume bringen Sie mit nach Bremen?

Die deutsche Kammerphilharmonie ist ein Traum. Ich möchte neue Sachen machen: Skrijabin, Martinu, Nielssen… – jede Erfahrung macht einen besseren Musiker aus mir.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze