: Günter Grass am Millerntor
Zickezacke, hoi hoi hoi: Nur vier Jahre hat die Wirklichkeit gebraucht, um die Satire einzuholen
In dem Romänchen „Der Mullah von Bullerbü“ hatten Wiglaf Droste und ich im Jahr 2000 unseren großen und hochverehrten Kollegen Günter Grass eine Stadionlesung zelebrieren lassen: „Das Freiburger Dreisam-Stadion war ausverkauft. Günter Grass sollte seinen neuen Roman ‚Mein Jahrtausend‘ präsentieren. Das Vorprogramm wurde von Eve Ensler bestritten, die aus ihrem Buch ‚Die Vagina-Monologe‘ las.“ Und zwar Originalzitate: „Meine Vagina war ein lebendiges feuchtes Wasserdorf. Meine Vagina war schwatzhaft. Meine Vagina war grün, Wasser, weichrosa Felder, eine Kuh, Muhen …“ Wir schrieben damals: „Günter Grass sah auf die Uhr. Schon anderthalb Minuten rum, dachte er verbittert. Dieses Vorprogramm dauerte ihm zu lange. Er wollte immerhin noch dreitausend Seiten vortragen, und seine Fans waren jetzt schon fast voll gelesen. Sie droschen auf ihre Blechtrommeln und sangen schmutzige Lieder […] ‚So. Das genügt‘, sagte Grass und jagte die Mädchen von der Bühne. ‚Jetzt rede ich!‘ Das Stadion kochte. Der Romancier las wie im Fieber. Drei Stunden verflossen, und die Fans begossen das Spektakel mit Bohneneintopf und kaschubischem Fusel. Bescheiden erhob sich der Nobelpreisträger. ‚Auf Millenium wünschte ich die Meisterschale mir. Mit meiner Wenigkeit als Trainer wird der SC Freiburg deutscher Meister. Zickezacke, Zickezacke, hoi hoi hoi!‘“
Vier Jahre hat die Wirklichkeit gebraucht, um die Satire einzuholen: Am vergangenen Sonntag lief Günter Grass für eine Benefiz-Lesung zugunsten des FC St. Pauli ins Hamburger Millerntorstadion ein, und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Ausverkauft war die Veranstaltung nicht, aber vom Fußballplatz aus belas Grass doch eine ansehnlich gefüllte Tribüne aus seinem bewährten Stimmungskiller „Mein Jahrhundert“. Sein Jahrhundert. Dieser Mann kriegt den Hals nicht voll, trotz Überfütterung durch drei bis vier Millionen Literaturpreise. „The twentieth century belongs to you and me“, so hatte Leonard Cohen einst sehr zärtlich Queen Victoria angesungen. Inzwischen wissen wir, dass auch das gesamte zwanzigste Jahrhundert Günter Grass gehört. Ich kenne Menschen, die es ihm gönnen. Obwohl die Lesung ein harter Brocken war, gab es in der Halbzeitpause freundlichen Applaus und Marmorkuchen. Vielleicht waren die meisten Besucher schon zufrieden damit, einmal leibhaftig jemanden vor sich stehen zu sehen, der seinen Erstwohnsitz in ARD, ZDF, 3sat, Arte und sämtlichen dritten Programmen sowie in dpa und Reuters angemeldet hat, um jederzeit in Sekundenschnelle über Krieg und Frieden in der Welt entscheiden zu können. Sollte die Wirklichkeit sich auch in Zukunft am „Mullah von Bullerbü“ orientieren, kommen schwere Zeiten zu auf den FC St. Pauli nach seiner Liaison dangereuse mit Günter Grass. Im „Mullah“ hatte er unmittelbar nach seiner Stadionlesung in Freiburg das Traineramt an sich gerissen, den gesamten Kader ausgewechselt und Heide Simonis als Libera verpflichtet und Konstantin Wecker als Goalgetter. Im Tor stand die Urne von Willy Brandt: „Doch trotz all dieser Mühen ging schon das erste Heimspiel verloren. Auch zahlreiche Glanzparaden von Willy Brandt konnten den Endstand von 0:96 nicht verhindern. Unterhaching ging als Sieger vom Platz, während Grass seine Felle davonschwimmen sah. Und so geschah das Wunder. Unter seinem Trainer Günter Grass stieg der SC Freiburg innerhalb einer einzigen Saison von der Bundesliga in die Kreisklasse ab.“ Am Ende des Romankapitels hatten Wiglaf Droste und ich Günter Grass durch einen ehemaligen Pressesprecher des SC Freiburg aus Freiburg verjagen lassen – Dietrich zur Nedden: „ ‚Talking is over. Action’s on!‘ knurrte der gut gewachsene Niedersachse, entsicherte den doppelläufigen Teppichklopfer, lud durch und gab dem Gdansker Saures. Grass riss aus und war im Handumdrehen über alle Berge.“
Saubere Arbeit. Falls demnächst auch am Millerntor aufgeräumt werden muss mit Grass, wird ein Anruf bei Dietrich zur Nedden genügen, und das Problem kann als gelöst gelten.
GERHARD HENSCHEL