: Umweltgifte in der Babyflasche
Immer noch gilt in der Umwelttoxikologie: große Menge, großer Schaden. Doch bei einer Reihe von Substanzen ist dieses Prinzip nicht anwendbar. Sie wirken auch in kleinsten Mengen. Der Gesetzgeber jedoch hat das noch nicht registriert
VON KATHRIN BURGER
„Chemie mit kastrierender Wirkung“ oder „Weniger fruchtbar mit Chemie“ titelten 1996 deutsche Zeitungen. Aufgeschreckt war man durch Studienergebnisse, die einigen Chemikalien eine „hormonähnliche“ Wirkung nachsagten. Durch die Giftstoffe verwandelten sich weibliche Wasserschnecken zu Männchen, Mäusen wuchs die Prostata übergroß, und auch beim Menschen vermutete man Schäden: Die seit dem Zweiten Weltkrieg sinkende Spermienzahl könnte mit Umweltchemikalien zusammenhängen, ebenso der Anstieg der Prostata-, Hoden- und Brustkrebsraten in industrialisierten Nationen. Zu den Hauptverdächtigen zählen: Phthalate, Tributylzinn oder Bisphenol A (BPA). Mit Tributylzinn feit man Bootsrümpfe gegen Algenbewuchs, BPA „vernetzt“ Plastikverpackungen, Phthalate machen PVC-Böden weich.
In Deutschland senkte man seitdem die Grenzwerte für einige Substanzen – die logische Schlussfolgerung aus den verwirrenden Funden. Denn die Toxikologie basiert auf dem Grenzwertprinzip. Der Grenzwert gibt die Menge einer Chemikalie an, unterhalb der man keine Gefahr für Mensch und Natur vermutet. Der Grenzwert für die tägliche BPA-Aufnahme liegt derzeit beispielsweise bei 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht.
Doch das Prinzip „viel schadet viel“ erwies sich bei einigen Versuchen mit Umweltchemikalien als falsch. Der Wissenschaftler Fredrick vom Saal, von der Universität Missouri in den USA, bemerkte 1998 zufällig, dass schon extrem geringe Mengen BPA seinen Labormäusen zusetzten: die Prostata vergrößerte sich, die Pubertät setzte früher ein, die Spermienqualität litt. Andere Forscher bestätigten seine Funde mit zahlreichen anderen Chemikalien. Die Dosis-Wirkungskurven hatten eine U- oder J-Form, anstatt linear anzusteigen.
Die Niedrigdosisbereiche polarisieren nun die Fachwelt. Skeptiker meinen, dass die Low-Dose-These noch nicht genügend wissenschaftliche Beweise liefere. So auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). „Wir verfolgen das, aber solange es keine bahnbrechenden Ergebnisse gibt, können wir auch keine Empfehlungen aussprechen“, so BfR-Sprecher Jürgen Kundke.
Andreas Gies vom Berliner Umweltbundesamt (UBA) meint dagegen: „Die geltenden Grenzwerte für BPA sind noch viel zu hoch. Einen konkreten Wert anzugeben, ist bei diesem Stoff auch unnütz, weil er bereits in wenigen Mikrogramm-Bereichen wirkt.“ Das UBA fordert deswegen, man solle Bisphenol generell viel weniger verwenden oder aber am besten ganz ersetzen, vor allem in Babyflaschen.
Derweil produzieren die Chemieunternehmen unverdrossen die EU-weit zugelassenen Stoffe – ohne Angaben über deren Gefährlichkeit machen zu müssen. Die Verantwortung liegt nämlich beim Gesetzgeber. Die Chemikalie BPA wird jährlich in einer Menge von zwei Millionen Tonnen in die Umwelt entlassen. In Deutschland waren es 1995 allein 210.000 Tonnen. Zudem haben Industrie-eigene Labors die Ergebnisse der Wissenschaftler nicht nachstellen können.
Man streitet sich vor allem um methodische Vorgehensweisen. Auf einem Kongress Ende 2003 in Berlin trafen sich die Streithähne und näherten sich zumindest in der Frage, welcher Test geeignet sei, an. „Doch bei allen anderen Punkten sind die Meinungsverschiedenheiten unüberbrückbar“, berichtet Gies.
Darum müssten Wissenschaftler, Industrielle und Beamte einen ständigen „Rat“ bilden, um die bislang reichlich chaotische Forschung zu systematisieren, so Professor Ibrahim Chahoud von der FU in Berlin. Er mahnt auch mehr Forschungsgelder an, um die Niedrig-Dosis-Bereiche genauer unter die Lupe nehmen zu können.
Auch andere Gremien nehmen sich des brisanten Themas an. Die OECD setzt sich etwa für eine Harmonisierung der Methoden ein. Der Rat der „Umweltweisen“ dringt in einem Gutachten vom Mai darauf, zumindest die Phthalate in Lebensmittelverpackungen stark zu minimieren. Nägel mit Köpfen könnte die EU-Kommission machen. Deren Entwurf zur neuen Chemiekaliengesetzgebung (Reach) will Stoffe, die das Erbgut verändern oder Krebs erregend sind, nur zulassen, wenn der Hersteller ein kontrollierbares Risiko beweisen kann. Damit ginge die Verantwortung auf den Hersteller über.
Der FU-Wissenschaftler Chahoud bleibt jedoch skeptisch: „Chemikalien sollen abhängig von den Produktionsmengen zugelassen werden. Darum könnten sich Länder wie Deutschland mit mächtiger Chemiebranche quer stellen, wenn der Entwurf im Herbst noch einmal diskutiert wird.“
Auf den Streit über mögliche Folgen von Umweltchemikalien in kleinen Dosen reagiert der Verbraucher unsicher: „Er meidet Risiken, was wiederum Innovation hemmen kann. Weil die beschriebenen Wirkungen auch nur selten sind, werden solche Risiken dann eher überschätzt“, weiß Uwe Pfennig, Soziologe an der Uni Stuttgart und Spezialist für Risikokommunikation. Um das zu vermeiden, müssten sich Wissenschaftler und Laien auf einen „gesellschaftlichen“ Konsens über den Umgang mit solchen Stoffen einigen.