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Archiv-Artikel

Hungern vor der Stellwand der Toten

Auf dem Alex protestieren AktivistInnen mit einem Hungerstreik gegen Menschenrechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen. Seit Samstag trinken sie nur gezuckerten Tee. Eine Berlinerin, die selbst in Isolationshaft saß, streikt mit

Die Gesichter der 10 Männer und Frauen, die vor dem kleinem Zelt auf den Alexanderplatz sitzen, sind sehr ernst. Seit Samstag harren sie dort aus. Am kommenden Sonntag wollen sie ihr Zelt wieder abbrechen. Bis dahin nehmen sie nur stark gezuckerten Tee zu sich. Die Gruppe befindet sich in einem einwöchigen Solidaritätshungerstreik, der vom türkischen Menschenrechtsverein Tayad organisiert wird.

Mit ihrer Aktion wollen die AktivistInnen auf die fortdauernden Menschenrechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen aufmerksam machen. „Es wird von einer Demokratisierung in der Türkei geredet. Doch Hunderte politische Gefangene sind dort weiterhin total isoliert“, meint Cem Deligiz vom Hamburger Tayad-Büro. Seit dem 20. Oktober 2000 befinden sich Hunderte politische Gefangene in einem Hungerstreik. Schon 107 Menschen sind gestorben.

Die Fotos der Toten sind auf einer großen Stellwand vor dem Zelt angebracht. Immer wieder bleiben PassantInnen stehen und blättern in Informationsbroschüren. „Viele Menschen können nicht verstehen, warum sich die Gefangenen freiwillig zu Tode hungern. Diese Bedenken kann ich gut verstehen – besonders wenn sie von Menschen kommen, die nie mit Gefängnis und Isolationshaft konfrontiert waren“, meint Ilse Schwipper. Die Berlinerin hat sich dem einwöchigen Hungerstreik angeschlossen, weil sie in den Siebzigerjahren in verschiedenen Gefängnissen in Westdeutschland selber mehr als 6 Jahre in Isolationshaft verbringen musste. Sie wehrte sich damals mit mehreren Hungerstreiks gegen ihre Haftbedingungen.

Ihr wurde die Beteiligung an der Ermordung des Berliner Verfassungsschutz-Mitarbeiters Ulrich Schmücker durch das Kommando „Schwarzer Juni“, einer Untergruppe der „Bewegung 2. Juni“, vorgeworfen. Schwipper war Hauptangeklagte des so genannten Schmücker-Prozesses, der im Januar 1991 nach 17 Jahren mit der Einstellung des Verfahrens endete.

Schwipper nahm 2000 an einem Kongress über Isolationshaft in Istanbul teil: „Dort habe ich zwei Frauen kennen gelernt, die mittlerweile im Hungerstreik gestorben sind. Sie waren so fröhliche Menschen und hätten sicher gerne noch länger gelebt.“ Cem Deligiz meint: „Wir wollen mit unserer Aktion verhindern, dass weitere Gefangene sterben.“

Die Hungerstreikenden am Alex werden in den nächsten Tagen mit Parlamentariern sprechen – und hoffen, dass diese Druck auf die Türkei ausüben.

PETER NOWAK