Odin und der braune Wurm

Pünktlich zur Europawahl sorgt ein Computervirus dafür, dass das deutschsprachige Internet mit Nazi-Mails überflutet wird. Erstmals nutzen Rechtsextreme einen „Wurm“ für ihre Propaganda

VON OLIVER TRENKAMP

Die Stürmer-Kästen erfreuten sich im „Dritten Reich“ großer Beliebtheit. In öffentlichen Glaskästen ließ die NSDAP ihr Hetzblatt Der Stürmer aushängen und veröffentlichte besonders abstruse Horrorgeschichten über angebliche „Verbrechen von Juden“, die stets auch die voyeuristischen Gelüste der braunen Leserschaft befriedigten. Die Nachfahren im Ungeist brauchen keine Glaskästen mehr – die rechte Szene von heute nutzt schon lange das Internet, um ihre Propaganda zu verbreiten. Diese Woche erreichte die braune Datenflut allerdings eine neue Qualität.

Eine Lawine von E-Mails mit rechtsextremem Inhalt ergießt sich seit Mittwochnacht über den deutschsprachigen Teil des Internet. Die Mails haben Betreffzeilen wie „Asylanten begrapschen deutsches Mädchen“ und ebenso krude Inhalte: In Stürmer-Manier wird über angebliche Erfahrungen mit kriminellen Ausländern schwadroniert, es gibt Links auf Internetseiten der NPD oder das rechte Fachblatt Junge Freiheit.

Solch unerwünschte Massenmails, Spam genannt, wurden bisher fast nur für Produktwerbung genutzt. Spams machen rund 60 bis 80 Prozent des globalen Datenverkehrs aus, obwohl das „Spammen“ in Deutschland und vielen anderen Staaten gesetzlich verboten ist.

Besonders perfide: Viele Empfänger der Nazi-Mails glauben zunächst, sie würden tatsächlich Post von einem Freund oder einer respektablen Institution bekommen. Denn die Absender von Spam-Mails sind meist gefälscht.

Im aktuellen Fall bestehen die Absenderdaten aus einer bunten Mischung aus Privatpersonen, großen Firmen und Medien. Es häufen sich Berichte von Menschen, die wutentbrannt von Bekannten angerufen wurden, weil diese dachten, die vermeintlichen Absender seien zu Neofaschisten mutiert.

In Fachkreisen wurde vermutet, dass die Rechten ihre Parolen über ein Netzwerk aus „gekaperten“ Computern verschickten – ein so genanntes Botnet. „Ein Botnet funktioniert wie eine große Ameisenarmee“, erklärt der IT-Sicherheitsexperte Florian Lehwald, „sie hört nur auf Anweisungen ihrer Königin.“ Ein Virus sorgt dafür, dass sich befallene Computer in einem nicht öffentlichen Chatroom anmelden. Von hier aus können sie ferngesteuert werden und verschiedene Aufträge erhalten.

Im aktuellen Fall deutet allerdings alles auf einen etwas weniger gefährlichen so genannten Wurm hin, der zu einem bestimmten Zeitpunkt auf befallenen Rechnern eine festgelegte Aufgabe ausführt, aber nicht ferngesteuert wird. Bisher wurden Würmer nicht systematisch von Rechten eingesetzt.

So ein Wurm ist der Virus „Sober.G“, der sich seit Mai im Internet verbreitet. Doch in der Nacht zum Donnerstag hörte „Sober.G“ plötzlich auf, sich selbst weiter zu versenden – und die braune Datenflut begann.

Der Programmierer von „Sober.G“ nennt sich „Odin“ und schreibt in dem Virus, dass er „kein Spammer“ und nicht zwischen 14 und 20 Jahren alt sei – als wolle er klarstellen, dass es sich nicht nur um Spielerei eines Pubertierenden handle.

Burkhard Schröder, Journalist und Kenner der rechten Szene, vermutet dahinter dennoch junge virtuelle Hooligans: „Das Ziel ist, Medienaufmerksamkeit zu erreichen und technische Fähigkeiten zu demonstrieren.“ In die Fahndung nach den Urhebern hat sich nun das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern eingeschaltet, weil ein Großteil der Mails über den Server der Uni Rostock verschickt worden sein muss.

„Odin“ hat seinen Virus offenbar so programmiert, dass er kurz vor der Europawahl wahllos rechte Propaganda an zigtausend Internetnutzer verteilt. Die Meinungen über solche Aktionen gehen unter Rechten auseinander: In ihren Internetforen diskutieren sie, ob dahinter wirklich einer der ihren steckt. Denn Spam diskreditiert den Absender, zumal sich in einigen Mails Rechtschreibfehler häufen. Ein Hinweis auf einen Ursprung außerhalb Deutschlands sind die fehlenden Umlaute in den Mails.