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Archiv-Artikel

Gebuchtes Dublin

James Joyce’ Dublin-Roman „Ulysses“ wird am 16. Juni 100 und eine Stadt feiert ein merkwürdiges Jubiläum: den Bloomsday. Und mit dem Buch in der Hand kann man heute 14 Bloom-Kilometer durch Dublin marschieren. Eine Visite

VON ANDREAS LESTI

Buch auf, Buch zu, Buch auf:

„Haben Sie ein Käse-Sandwich?“

„Jawohl, Sir. Und der Frau geht’s?“

„Ganz gut, danke … Ein Käsesandwich also. Gorgonzola, haben Sie?

„Jawohl, Sir.“

Buch zu. Und die Blicke in Steve Delanys stahlblaue Augen. Der junge Ire bedient im „Davy Byrnes“, einem Pub in der Duke Street. Nicht in irgendeinem Pub, sondern in dem Pub, in dem Leopold Bloom auf Seite 234 sein Mittagessen ordert. Dublin, die irische Hauptstadt Ulysses, der Roman von James Joyce, der sie beschreibt, wie sonst kein Roman der Weltliteratur eine Stadt beschreibt. Leopold Bloom, seine Hauptfigur. Sie gehören zusammen und feiern zusammen, wenn am 16. Juni 2004, dem Tag, an dem der Roman handelt, genau 100 Jahre zwischen ihnen liegen. Anlass genug, sich auf Blooms Spuren und die der „Ulysses“-Pilger zu begeben, „diese Verrückten“ (Steve Delany), die noch heute ein Gorgonzola-Sandwich mit Senf und ein Glas Burgunder bestellen – und bekommen. Das Buch will es so. Und Steve Delany schüttelt den Kopf. Buch auf:

„Mr. Bloom bog am Schaufenster mit den ungekauften Torten von Grays Konditorei um die Ecke und ging an Hochwürden Thomas Connellans Buchhandlung vorbei. (…) Ein blinder Jüngling stand da und tappte mit seinem dünnen Stock den Bordstein ab. Keine Tram in Sicht. Will wohl rüber.“

„Möchten Sie rüber? fragte Mr. Bloom. (…) – Sie sind in der Dawson Street, sagte Mr. Bloom. Gegenüber ist die Molesworth Street. Möchten Sie hinüber? Der Weg ist gerade frei.“

Buch zu. Der Weg ist gerade nicht frei. Doppeldecker-Busse rauschen vorbei und ihr Sog reist einen fast auf die Straße. Nirgendwo steht ein Blinder. Dafür steht an der Straßenecke heute das „European Union House“. Eine Buchhandlung gibt es noch. Nicht die von Hochwürden, sondern einen „Murder Ink Mystery Book Store“. Lediglich der St. Ann’s Church rechts konnte die Zeit nichts anhaben. Eine Fußgänger-Ampel springt auf Rot. Ein Taxi hält, drei Banker steigen aus, und für einen kurzen Moment siegt das „Stand by me“ zweier Straßenmusiker über den Verkehrslärm. Hinter dem Europahaus lehnt ein Penner an der Wand und übergibt sich. Er wirkt völlig gleichgültig. Buch auf:

„Er ging auf die Sonnenseite hinüber, vermied die lose Kellerklappe von Nummer Fünfundsiebzig. (…) Er bog in die Dorset Street ein und sagte frisch durch die Türe grüßend:

„Einen schönen guten Tag, Mr. O’Rourke!“

„’n Tag auch. – Wunderschönes Wetter heute, Sir!“

„Kann man sagen.“

Buch zu. Eccles Street Ecke Dawson Street. Von hier sind es nur wenige Schritte zum James-Joyce-Center und Lisajane Duffy. So wie Barkeeper Steve Delany und viele Dubliner schüttelt auch sie den Kopf über Bloomsday und ist doch Bestandteil davon. „Am Morgen des 16. Juni werden sich hier etwa 10.000 Menschen aufhalten und gemeinsam frühstücken.“ Einer der Höhepunkte des Bloomsday. Jetzt ist die Straße verlassen und grau, und gäbe es an diesem regnerischen Tag eine Sonnenseite, dann würde man schleunigst hinübergehen. „10.000 Menschen“, wiederholt Lisajane Duffy noch einmal. „Vermutlich ist Dublin die einzige Stadt der Welt, die einen Tag feiert, den es in der Realität niemals gegeben hat.“ Kopfschütteln. Sicherlich, die Geschichte, wie einige irische Literaten in den 50er-Jahren erstmals den Bloomsday feierten, ist bekannt. Eine verrückte Idee, die irgendwie ankam. Denn seitdem hat man jedes Jahr noch einen draufgesetzt und steuert nun einem neuen Höhepunkt entgegen. Das passt zur Mentalität der Dubliner, die 100 Jahre nachdem Leopold Bloom sie wahrgenommen hat, immer noch genauso schrullig sind. Sympathisch-schrullig. Wenn man die Menschen in der Fußgängerstraße nach der Herkunft des Bloomsday fragt, gestehen viele lachend, entweder überhaupt keine Ahnung zu haben oder „Ulysses“ nicht gelesen zu haben. Ist ja auch nicht notwendig, um zu feiern. Buch auf:

„Stattlich und feist erscheint Buck Mulligan am Treppenaustritt.“ So fängt alles an, aber was passiert eigentlich in „Ulysses“? Genau genommen nicht viel. Zwei Menschen wandeln kreuz und quer durch die Stadt, treffen sich hin und wieder, gehen auf eine Beerdigung, in die Nationalbibliothek, eine Zeitungsredaktion, ein Bordell und eine Wohnung. Das war’s auch schon.

Und umso mehr die Frage: Was erhob den Roman zu diesem Status? Natürlich, die Art und Weise. James Joyce hat sein ganzes Leben in diesen Tag gepackt, alles was er jemals gehört, gesehen, gerochen und gefühlt hat, steckt in diesem Tag. Es ist eine detailreiche Momentaufnahme der Stadt. Das Buch umfasst 1.000 Seiten mit 250.000 Worten, das sollte man dazusagen. Und 30.000 davon sind verschiedene Wörter, was dem Wortschatz Goethes entspricht, und die Blickwinkel sind so vielfältig, dass Joyce selbst sagte, dass „die Stadt, wenn sie eines Tages vom Erdboden verschwände, nach meinem Buch wieder aufgebaut werden könnte“.

Glücklicherweise ist dieser Fall nicht eingetreten. Und so kann man heute 14 Bloom-Kilometer durch Dublin marschieren. Vor einigen Jahren wurden 14 Plaketten entlang dieser Route in den Boden eingelassen. Schnittstellen zwischen Stadt und Buch, Tore in die Gegenwelt der Vergangenheit. Auf der O’Connell-Brücke befindet sich Nummer drei. Buch auf: „Als er den Fuß auf die O’Connell Bridge setzte, puffte ein Federball aus Rauch von der Brüstung auf. (…) Niederblickend sah er heftig mit den Flügeln flappende, zwischen den öden Kaminmauern kreisende Möwen.“

Buch zu. Eindrucksvoller kann die Veränderung gar nicht sein. Während im Buch Pferdekutschen, Straßenbahnen und genau ein Auto vorkommen, verläuft der Verkehr nun achtspurig über die Brücke. Das ganze Dubliner Busnetz und der gesamte Lkw-Verkehr Irlands scheinen hier vorbeizuführen. Auf den Gehsteigen schieben sich die Menschenmassen auf der einen Seite Richtung „Spire“, dem 130 Meter hohen Sporn und neuen Wahrzeichen der Stadt, auf der anderen Seite Richtung Grafton-Fußgängerzone entlang. Über der Liffey kreisen keine Möwen. Und wenn, dann würde ihr Flügelflappen im Gebrummel der Menschen untergehen zwischen Sprachfetzen aus Englisch, Französisch und Deutsch. Über den Köpfen flackern die Leuchtreklamen von „Marks & Spencer“ und „Burger King“. Buch auf:

„Ja weil er so was doch noch nie gemacht hat bis jetzt dass er sein Frühstück ans Bett haben will mit zwei Eiern seit dem City Arms Hotel wo er immer so tat.“

Buch zu. „Ulysses“ endet mit einem 75 Seiten langen Gedanken-Monolog ohne Punkt und ohne Komma. 75 Seiten Wörter und kein einziges Satzzeichen. Dublin und „Ulysses“. Auch im Jahr 2004 lebt das Buch noch in den Straßen der Stadt, einer Stadt wie das Buch, das sie beschreibt, ohne Punkt und ohne Komma, einer Stadt, faszinierend und verzückend, mit vielen lebensbejahenden Menschen, die morgen zu zehntausenden Bloomsday feiern und dabei recht gut zum berühmten „Ulysses“-Schluss passen. Buch auf:

„ … ja ich will Ja.“ Buch zu.