: Europa braucht Aufmerksamkeit
Anlässlich der Wahlen häuft sich die Kritik am EU-Parlament. Sicher, alles könnte transparenter, direkter, effektiver sein – aber Anlass für ein Krisenszenario besteht nicht
Europa ist dieser Tage das Thema, nicht nur in den Medien, auch auf den Straßen, am Stammtisch, in der Bahn. Leider geht es dabei um Fußball, nicht um die morgigen Wahlen zum Parlament der Europäischen Union. Ging schon 1999 nicht einmal mehr die Hälfte der EU-Bürger wählen, wird diesmal mit einer noch geringeren Beteiligung gerechnet. Dieser Mangel an Interesse an der Europawahl wird oft als Beweis dafür angeführt, dass das Parlament nicht ausreichend durch den Wählerwillen legitimiert sei.
Tatsächlich ist die niedrige Beteiligung bei den direkten Wahlen zum Europäischen Parlament nicht der einzige Schönheitsfehler der Demokratie in der Europäischen Union, sondern vielleicht nur der sichtbarste. Abseits dessen wird dem EU-Parlament generell abgesprochen, ausreichend an der Gesetzgebung der Union mitzuwirken. Die Volksvertretung ist inzwischen geradezu zum Sinnbild für den Mangel an Demokratie in der EU geworden.
Der Hauptvorwurf vieler Beobachter aus Wissenschaft und Politik betrifft die Grundlagen der europäischen Volksvertretung. Sie wird als Möglichkeit gänzlich in Frage gestellt. Die EU-Bürgerschaft ist nach dieser Lesart lediglich ein formales Konstrukt. Die Bürger der Union bilden keine belastbare politische Gemeinschaft – keine, die es notfalls ermöglichen würde, den einen (etwa den Finnen) Opfer für die anderen (etwa die Griechen) abzuverlangen.
Wo es aber eine solche belastbare Gemeinschaft nicht gibt, darf man die europäische Demokratie nicht primär über allgemeine Wahlen – das heißt: nach dem Mehrheitsprinzip – organisieren, weil so immer einige unterliegen. Ohne demos kann es keine funktionierende „Demokratie“ geben.
Gleiches wird für die europäische Öffentlichkeit reklamiert. Demokratie braucht Öffentlichkeit, in der konkurrierende politische Vorhaben – „Programme“ – erörtert und erwogen werden können, bevor sich die Bürgerschaft dann in der Abstimmung möglichst aller ihrer Mitglieder für eine der vorhandenen Alternativen entscheidet. Öffentlichkeit ist das Lebenselixier der Demokratie: sie kann ohne sie nicht existieren.
Es wird seit langem mit eigentlich recht banalen Argumenten – nicht zuletzt dem, dass die Bürger der Europäischen Union keine gemeinsame Sprache haben – bestritten, dass es eine europäische Öffentlichkeit geben kann. Und erneut lautet das Verdikt: Ohne europäische Öffentlichkeit kann es keine europäische Demokratie geben.
Doch diese Analyse trifft nicht zu: Eine die jeweilige politische Gemeinschaft umfassende politische Öffentlichkeit erfordert keine gemeinsame Sprache. Die schweizerische und die belgische Geschichte legen dafür beredtes Zeugnis ab. Beide Beispiele zeigen, dass eine gemeinsame Öffentlichkeit über das Mediensystem und über sprachmächtige und deshalb kommunikationsfähige lokale politische Eliten hergestellt werden kann.
Jüngere Untersuchungen über die Gegenstände des politischen Diskurses in den Mitgliedsländern der Europäischen Union legen nahe, dass es mit der Reichweite der politischen Öffentlichkeit in der EU so schlecht nicht bestellt ist. Strukturelle Kommunikationsbarrieren sind weitgehend zu vernachlässigen. Für die EU-Politik ist ihr geringer Nachrichtenwert nach wie vor ein Problem, was sich aus einer schwachen Personalisierung und einer vielerorts kaum sichtbaren parteipolitischen Polarisierung ergibt.
Zudem konnte sich bei weitem nicht jedes demokratische politische System von Anbeginn auf eine „belastbare“ politische Gemeinschaft stützen. Manche alte und starke Demokratie – die Vereinigten Staaten von Amerika sind hier das beste Beispiel – musste sich ihren demos gar erst schaffen. Dies wird im Falle der Europäischen Union wohl nicht anders verlaufen.
Dabei sind die wiederkehrenden Erweiterungsschübe in der Frühphase der europäischen Einigung für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Unionsbürger zunächst nicht zuträglich. Die jüngste „Osterweiterung“ kann ein besonderes Problem darstellen, da sie die ökonomische Solidarität der EU-Bürger in besonderer Weise strapazieren wird. Allerdings ist davon auszugehen, dass die idealistische Perspektive des „einen und freien Europa“ zur Schadensbegrenzung beitragen wird. Ganz allgemein braucht jede einigermaßen funktionierende Gemeinschaft klare Grenzen. Die Europäische Union ist mit Blick auf die Türkei gerade dabei, diese für sich zu definieren.
Die Kritik an den Grundlagen einer möglichen europäischen Demokratie ist also etwas voreilig – genau wie die Kritik an den undemokratischen Strukturen in der EU-Gesetzgebung. Bei der Europäischen Union handelt es sich nicht um ein isoliertes, abgehobenes, eigenständiges Regierungssystem sui generis. Die EU ist nicht mehr und nicht weniger als eine von verschiedenen Regierungsebenen im europäischen Mehrebenensystem, die in Deutschland in einer Reihe steht mit der Bundespolitik, der Landespolitik und der Kommunalpolitik.
Dabei sollte nicht verkannt werden, dass die Ebene der Regierung der Europäischen Union mit zunehmender Reichweite ihrer politischen Regelungskompetenz immer wichtiger wird. Alle Aussagen über den Zustand der Demokratie in Europa müssen demzufolge neben der EU-Ebene auch die Prozesse demokratischen Regierens auf den nationalen und subnationalen Ebenen in den Mitgliedsländern berücksichtigen.
Auch die niedrige Wahlbeteiligung führt nicht zwangsläufig zu Repräsentationsdefiziten des Europäischen Parlaments. Wir wissen, dass die Motive der Wahlbeteiligung beziehungsweise der Nichtbeteiligung mit der individuellen Zustimmung zur Politik der EU kaum etwas zu tun haben. Insofern repräsentiert das direkt gewählte Parlament nicht nur die politischen Präferenzen der Proeuropäer. Auch Europakritiker haben in der Vergangenheit ihre Repräsentanten ins Parlament gewählt. Warum sollten sie dies diesmal nicht tun?
Politische Repräsentation – das heißt: Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten – ist allerdings weit effektiver in allgemeinpolitischen als in europäischen Fragen herzustellen. Ein Beispiel für die mangelnde Repräsentativität der Gewählten in europäischen Fragen ist die Einführung der gemeinsamen Währung gegen den fortdauernden Widerstand einer Mehrheit der Deutschen.
Der kritische Beobachter gerät also in eine Zwickmühle, wenn er ein endgültiges Urteil über das Europäische Parlament abgeben soll. Sicher kann immer alles transparenter, direkter, effektiver sein, als es ist. Wer ist schon zufrieden mit der Demokratie, in der er lebt? Anlass für ein Krisenszenario bietet die Regierung der Europäischen Union im demokratischen Mehrebenensystem Europas allerdings nicht: Die Verfassung ist im Werden und das Parlament heute mächtiger denn je. Das allein ist Grund genug, seine Wahl und sein Wirken aufmerksam zu verfolgen. HERMANN SCHMITT