: Der Zwang überkommener Bräuche
Allein in Berlin hat es im vergangenen Jahr mindestens 230 Zwangsverheiratungen gegeben. Die Dunkelziffer ist hoch. Die Ehe wider Willen ist keineswegs eine Frage der Religion. Beratungsstellen für betroffene Migrantinnen fordern mehr Fachpersonal
von HEIKE KLEFFNER
Die Zahl wirkte wie ein Schock. Allein im Jahr 2002 seien in Berlin 230 Fälle von Zwangsverheiratungen bekannt geworden, berichtete die Grünen-Fraktionschefin Sibyll Klotz. Sie warnte zudem vor einer hohen Dunkelziffer, da eine Tabuisierung des Themas und Informationsdefizite verhindern würden, dass Zwangsheirat als Problem anerkannt und Maßnahmen zur Vorbeugung getroffen würden.
Heute beraten Expertinnen aus der Praxis bei einer Anhörung der Grünen im Bundestag darüber, wie diese Defizite behoben werden können. Anlass für die Diskussion unter dem Motto „Zwangsheirat ist keine Ehrensache“ ist eine Kampagne von terre des femmes.
In Berlin erhalten Betroffene unter anderem Unterstützung beim Mädchennotdienst von Wildwasser und bei Papatya. Letztere bieten als Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen einen Schutzraum, dessen Adresse nicht veröffentlicht wird, um den Mädchen maximale Sicherheit bieten zu können.
„Zwangsheirat hat nichts mit der Religion zu tun“, betonen sowohl Dorothea Zimmermann vom Mädchennotdienst als auch Corinna Ter-Nedden von Papatya. „Zu uns kommen sowohl Mädchen aus islamischen Familien aus der Türkei oder aus dem arabischsprachigen Raum als auch Jugendliche aus christlichen Familien, beispielsweise aus Griechenland.“ Hinzu komme eine wachsende Zahl junger Teenager aus osteuropäischen Romafamilien.
Die Psychologinnen unterstreichen, dass die Grenze zwischen „arrangierten Heiraten“ und „Zwangsheiraten“ vor allem in osteuropäischen Ländern wie dem katholisch geprägten Polen durchaus fließend sein könne. „Wichtig ist vor allem, zu erkennen, dass Zwangsheiraten das Ergebnis überkommener Traditionen und Bräuche sind“, sagt Memnune Yilmaz , Leiterin des Mädchennotdienstes.
Die Ursachen für Zwangsheiraten liegen aber auch in den rigiden Einwanderungs- und Ausländerrechtsbestimmungen. „Oft wird ein Mädchen mit einem Cousin verheiratet. Wenn der potenzielle Ehemann noch im Herkunftsland der Familie wohnt, ermöglicht ihm die Heirat den Aufenthalt in Deutschland“, sagt Memnune Yilmaz. Dabei gehe es nicht ausschließlich um eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen. „Auch wenn beispielsweise eine kurdische Familie politisch verfolgt wird, kann eine Zwangsheirat mit einer in Deutschland lebenden Verwandten als Ausweg gesehen werden“, sagt Yilmaz. In anderen Fällen spielen soziale und familiäre Verpflichtungen sowie Geld in Form des Brautpreises eine Rolle.
Bevor sich Mädchen an die Kriseneinrichtungen wenden, „suchen viele erst nach privaten Lösungen, das heißt, sie kommen bei älteren Geschwistern oder Freunden unter“, ergänzt Dorothea Zimmermann. Aufgabe der Kriseneinrichtungen sei es, zum einen die Mädchen darin zu unterstützen, ihre eigenen Wünsche und Forderungen zu formulieren. Zum anderen werde versucht, zwischen den Eltern und den Mädchen zu vermitteln. Am Ende steht dann manchmal eine schriftliche Vereinbarung, die beim Jugendamt von den Eltern unterschrieben wird. „Das fängt bei scheinbar banalen Alltäglichkeiten wie dem Recht auf regelmäßigen Schulbesuch oder auf Treffen mit Freundinnen an“, erklärt Corinna Ter-Nedden. Manchmal unterschreiben die Eltern auch, dass ihre Tochter vom geplanten Türkei-urlaub wiederkommen wird.
Rund die Hälfte aller Mädchen entscheidet sich für eine Rückkehr in die Familie. „Entscheidend ist oft die Ambivalenz der Mädchen“, so Yilmaz. Dafür gebe es viele Gründe. Manche sehen eine Ehe durchaus auch als Weg zu größerer Unabhängigkeit von der eigenen Familie. „Allerdings wollen sie sich den Ehemann selbst aussuchen.“ Oft vermissen sie auch ihre jüngeren Geschwister oder glauben den Versprechungen der Eltern, dass bei ihrer Rückkehr alles anders werde. Dies kann trügerisch sein. 10 Prozent „Wiederaufnahmen“ hat Papatya registriert.
Einig sind sich die Expertinnen auch in einem anderen Punkt. Die Jugendämter müssen vor allem Mädchen unterstützen, die aus ökonomisch benachteiligten und kaum integrierten Familien kommen. „Sobald die Eltern gut Deutsch sprechen können oder wohlhabend sind, wird ihre Sicht viel eher in Frage gestellt“, so Zimmermann.
Auch wenn die Expertinnen erste Erfolge der Informationskampagnen feststellen, bleiben Forderungen offen: nach mehr Geld für Kriseneinrichtungen beispielsweise oder nach sprachkompetentem Fachpersonal in Kinder- und Jugendpsychiatrien. „Es reicht eben nicht, wenn eine türkische Putzfrau zum Übersetzen herangezogen wird“, sagt Memnune Yilmaz.