: Melancholie der Gosse
„Die nackte Begegnung, die entblößte, eindringliche Begegnung mit dem Gegenüber und damit mit mir selbst“, so beschreibt der schwedische Fotograf Anders Petersen die Intention seiner Fotografie. „In allen meinen Fotografien versuche ich im Grunde, Selbstporträts zu machen.“ Anders Petersen, der Fotograf der Bilder auf dieser Seite, ist ein bedeutender Autorenfotograf in Europa. Er ist vor allem für seine intensiven und einfühlsamen Fotografien bekannt geworden, in denen er mit großer Nähe und Sensibilität Menschen am Rande der Gesellschaft schildert. Seine Bilder aus der Hamburger Kneipe Café Lehmitz, von 1967 bis 1970, haben Fotogeschichte geschrieben. „Die Menschen im Lehmitz hatten eine Wärme und Aufrichtigkeit, die mir selber fehlte. Man durfte dort desperat, einsam oder schwach zu sein. Es gab ein Gruppengefühl, eine große Herzlichkeit und Toleranz.“ Anders Petersens erste Ausstellung fand 1970 im Café Lehmitz statt, wo er über 350 Bilder zeigte. Jeder, der sich auf einem Foto wiedererkannte, durfte sein Bild behalten. Für sein Lebenswerk ist Anders Petersen nun am 20. Januar mit dem renommierten Dr.-Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnet worden. ANN CHRISTINE JANSSON
Die Bilder von Anders Petersen sind derzeit in einer Ausstellung im „Felleshus“ der Nordischen Botschaften zu sehen, Rauchstr. 1, 10787 Berlin. Bis zum 1. März, Montag bis Freitag 10–19 Uhr, Samstag bis Sonntag 11–16 Uhr
Die Aufnahmen von Anders Petersen zeigen das Leben in all seiner Müdigkeit und Drastik
VON JAN FEDDERSEN
Es sind Dokumente einer versunkenen Welt, diese Fotografien des in Hamburg gestrandeten Schweden Anders Petersen. Kneipen wie diese gibt es nicht mehr; überall in der wohlhabenden Welt sind Bierschwemmen, Bars, Pinten dieser Art ausgestorben; das Proletariat existiert so nicht mehr. In Hamburg fehlt es an Hafenarbeitern, wie sie damals nach Feierabend den Geesthang von der Elbe aufwärts in Richtung Innenstadt emporgingen, um dort die zweite Schicht zu schieben, absichtsvoll lebenslustig; damals war der Krieg ja noch fühlbar nah.
Im Gegensatz zu den Interpretationen, die das längst verschwundene Café Lehmitz auf sich zog, war es niemals ein Fluchtort einer Gruppe Menschen, die die Rubrik eines Tages auf Spiegel Online in dem Satz „Trinker und Transvestiten, Huren und Heroinsüchtige, Diebe und Dunkelmänner“ einklammert. St. Pauli, der Sex verheißende Stadtteil der immer prüden Jahre, kam in dieser Kneipe allenfalls zu sich selbst. Dort spielte man nicht bürgerlich, man war es einfach nicht. Die Pointe: Dieser Schuppen lag nicht einmal direkt an der Reeperbahn, sondern etwas abseits, mehr in Sichtweite des die Hafenkante überragenden Bismarckdenkmals und nah an den Landungsbrücken. Das Lehmitz am Zeughausmarkt hatte mehr mit proletarischer Kultur zu tun als mit der hysterisch-lüsternen Atmosphäre, die im Sexviertel St. Pauli waberte.
Die Figuren, die die Bilder wieder zum Leben erwecken, sind solche des Nachkriegs eindeutig. Das Lachen – etwas zu grell; die Körpersprache – drastisch bis hin zum wuchtigen Griff unter den Rock; die Schmusereien – wie endzeitlich inspiriert. Im Café Lehmitz landeten nur jene, die auf St. Pauli eine Heimat gefunden hatten, die dort nicht etepetete tun wollten, sondern trinken, quatschen, angraben, sich der Meinungs- und Körperfreude hingeben.
Das Lehmitz, wie es knapp und ohne den Zusatz „Café“ genannt wurde, ist nicht einmal einem Caffè-Latte-Lokal gewichen; ein Versicherungsbüro ist dort jetzt angesiedelt; man sagt, die Anwohner in den Genossenschaftsbauten des Nachkriegs, eher auf Ruhe und Rückzug, auf heruntergelassene Jalousien und nur selten geöffnete Balkone bedacht, wollten keine Bierschwemme mehr, keine Kotze auf dem Bürgersteig, im Alkoholschicker singenden Paare des Nachts. Eine tote Ecke nun.
Ob die Gäste des Lehmitz, wie viele Kommentatoren nach Veröffentlichung der Bilder Petersens schrieben, glücklich waren, ist natürlich nicht mehr herauszufinden. Vermutlich steckt hinter dem Interesse gerade der bildungsbürgerlichen Bilderkunstszene an diesem Milieu ein insgeheimes Fasziniertsein durch das, was man „Gosse“ nennt, ohne dass die dieser Szene Zugerechneten das so gesehen haben müssen. In Wahrheit ist alle Melancholie, alle Müdigkeit und Drastik, die diese Dokumente zu belegen scheinen, allenfalls eine fantasierte. Es sind lediglich Leben zu sehen, die sich alles von der Zukunft versprechen und zugleich auch von ihr nichts. Es liegt in ihnen keine Hoffnung, kein Zynismus – sie sind am besten wohl zu nehmen als Projektionsflächen für jene Szene junger Menschen, die seit den späten Neunzigerjahren in der Gosse so etwas wie Antidekadente, edle Wilde zu entdecken glaubten. Sie hoffen immer noch.
JAN FEDDERSEN, 51 Jahre, kennt das Lehmitz aus Kindertagen. Es war keine gute alte Zeit