: Ein Spiel von 93 Minuten
Nach der 1:2-Niederlage gegen Frankreich ist man auf englischer Seite überzeugt, sämtliches verfügbares Pech bereits aufgebraucht zu haben – und deshalb überraschend guter Dinge
AUS LISSABON MATTI LIESKE
Es gab Zeiten, da dauerte ein Fußballspiel 90 Minuten. Und zwar nicht nur im Herberger’schen Sinne, dass man nicht zu früh frohlocken bzw. aufstecken dürfe, da ja erst nach den bewussten 90 Minuten abgerechnet werde. Es dauerte tatsächlich 90 Minuten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Höchstens, wenn es mal ausufernde Verletzungspausen gegeben hatte, ließ der Schiedsrichter 15 Sekunden länger spielen; und wenn eine Mannschaft extrem ostentativ Zeit geschunden hatte, dann 30.
Was wären das für Geschichten gewesen beim Match Frankreich gegen England, wenn ein Spiel heute immer noch 90 Minuten dauern würde. Der Fluch, der auf den einstmals so grandiosen Franzosen lastet, einfach kein Spiel mehr gewinnen zu können in großen Turnieren. Das fruchtlose Bemühen dieser imposanten Fußballhydra mit elf Köpfen und 22 Füßen, denen nicht nur der profane Tastsinn, sondern ein jeder der fünf Sinne innezuwohnen scheint, und der sechste dazu, wenigstens ein schnödes Tor zu erzielen. Die Flüche des Thierry Henry, weil ihm in jeden noch so perfekt angesetzten Schuss die Fußspitze eines Kontrahenten flutschte, oder die Schultern des Zinedine Zidane, die mit jeder Minute, die sich der Uhrzeiger der scharfrichterlichen Neunzigminutenmarke näherte, noch ein kleines Stück tiefer sanken. Gar nicht zu reden von der Glatze des Fabien Barthez, deren Glanz sukzessive zu verblassen schien, auch wenn das eine optische Täuschung gewesen sein mag, geboren aus der fatal heraufdämmernden Erkenntnis: Frankreich ist verloren – auch bei dieser EM.
Oder die Engländer, die es erstmals seit 1966 schafften, ein enges, umkämpftes Match gegen einen gleichwertigen oder gar überlegenen Gegner zu gewinnen. Die endlich mal eine eigene Führung über die Zeit brachten und nicht am Ende auf tragische Weise scheiterten wie in den legendären Elfmeterschießen gegen Deutschland bei der WM 1990 und der EM 1996, oder auf dumme wie bei der WM 1970 gegen die Deutschen, 1998 gegen Argentinien nach Beckhams Platzverweis, 2000 beim Vorrundenabschluss der EM gegen Rumänien oder 2002 gegen Brasilien. Endlich gebrochen also der Bann, der Britanniens Kickern als Preis für den WM-Gewinn 1966 auferlegt wurde, selbst wenn Prinz Beckham mit seinem von Barthez gehaltenen Elfmeter alles versucht hatte, ihm weitere Gültigkeit zu verleihen.
Was wären das also für Geschichten gewesen, würde ein Spiel 90 Minuten dauern. Aber es dauert ja heutzutage, zum Beispiel, 93 Minuten, und die Bonuszeit reichte den Franzosen, das 0:1 noch in einen 2:1-Sieg umzuwandeln. Noch nie sind auf so vielen Laptops gleichzeitig so viele nahezu identische Texte gelöscht worden wie auf der Pressetribüne des bezaubernden Estadio de Luz in Lissabon an diesem Abend.
Konsterniert, aber ungebrochen und mit einer ordentlichen Portion Trotz kam Englands Coach Sven-Göran Eriksson anschließend in die Pressekonferenz, noch immer fassungslos darüber, dass seine Mannschaft, die 90 Minuten lang keinen Fehler gemacht hatte, in der Nachspielzeit aber gleich deren zwei und umso fatalere beging. „Wir haben all das getan, was man gegen Frankreich tun muss“, beharrte der Schwede, als Ursache für den Zusammenbruch kurz vor dem Zielstrich kam ihm nur eines in den Sinn: „Pech!“
Tatsächlich hatten die Engländer den französischen Kombinationskünstlern die Sache extrem schwer gemacht. Zwei Viererketten, die dicht beieinander und sehr tief standen, davor die Angreifer Owen und Rooney als ständige Bedrohung für die Abwehr des Gegners. Ob es nicht äußerst riskant sei, gegen die Franzosen so dicht am eigenen Strafraum zu verteidigen, wurde Eriksson gefragt. Ganz gewiss, meinte jener, aber noch riskanter sei es, ihnen den Ball früh abjagen zu wollen, denn dann wäre zwischen Abwehrkette und Torwart zu viel Platz für Frankreichs schnelle Spitzen. „Wenn Henry geht, ist er weg“, sagte Eriksson, „kein Verteidiger der Welt kann dann noch etwas tun.“
Es war eine atemberaubende Partie vor atemberaubender Kulisse im Luz, dem Schmuckstück dieser EM. So rasant hetzten sich in den ersten 20 Minuten die Spieler im Mittelfeld, dass es sogar für die beiden Protagonisten, Beckham und Zidane, zu schnell ging. Sie fanden erst in die Partie, als sich das Tempo etwas beruhigte, zuvor hatten die Dauerläufer Scholes und Pires das Spiel ihrer jeweiligen Mannschaft dominiert. Danach gewann die französische Spielkunst zwar die Oberhand gegen englische Robustheit, doch wie schon bei der WM in Asien und auch in den letzten Vorbereitungsspielen für diese EM hatten Zidane, Henry und Kollegen Probleme, ihre komplizierten Ballstafetten in Torchancen münden zu lassen. Auf der anderen Seite war jedoch auch das viel simplere und geradlinigere Spiel der Engländer selten gefährlich. „Wir haben die ganze Zeit Antworten gesucht“, meinte Jacques Santini, Frankreichs Trainer, „aber die besten Individualisten beider Teams haben sich gegenseitig neutralisiert.“ Herhalten für die Entscheidung musste unter diesen Umständen das probate Allheilmittel des zeitgenössischen Fußballs. „Die besten Chancen beider Mannschaften brachten Standardsituationen“, so Santini. Und da waren es doch die Protagonisten, welche die Sache unter sich ausmachten: Beckham mit seinem Freistoß auf den Kopf von Lampard (38.) und dem vergebenen Elfer (73.), Zidane mit direktem Freistoß und verwandeltem Elfmeter in den letzten Sekunden.
„Viel Power“ gebe dieser Sieg den Franzosen, glaubt Bixente Lizarazu, doch auch Englands Coach Eriksson zog Positives aus dem Match: „Wenn wir in den nächsten beiden Partien so spielen wie heute, sieht man England im Viertelfinale.“ Und nicht nur das: „Hoffentlich treffen wir Frankreich im Finale wieder. Zweimal in zwei Wochen haben wir bestimmt nicht so ein Pech.“