Fliegende Einbeiner

Käufer gesucht: Internationale Qualitäts-Dokumentationen, die uns bald im Fernsehen begegnen werden – jedenfalls, wenn sie einen Sender finden

VON HARALD KELLER

1987 geriet mit Arnold Friedman ein wahrer Musterbürger ins Visier der Justiz, weil er ein homoerotisches Schmuddelheft aus den Niederlanden bezogen hatte. Weil aber Mr. Friedman ein beliebter High-School-Lehrer war und privat Computerkurse gab, entwickelte sich das Strafverfahren zu einer Hexenjagd: Friedmans Schüler wurden zu Aussagen gedrängt, nach denen Arnold sowie sein 18-jähriger Sohn Jesse regelrechte Orgien mit ihnen veranstaltet hatten. Die Ehe der Friedmans zerbrach, der Vater wählte den Freitod, Jesse verbrachte 13 Jahre im Gefängnis.

Die Rollen scheinen klar verteilt in Andrew Jareckis Dokumentation „Capturing the Friedmans“, aber es gibt Fallstricke. Arnold Friedman bekannte sich im Vertrauen zu seiner Pädophilie, bestritt aber die Missbrauchsvorwürfe, die in der Tat wenig glaubwürdig erscheinen. Was Jareckis Film so einzigartig macht, ist der Umstand, dass Arnolds Sohn David als leidenschaftlicher Amateurfilmer den Zerfall der Familie mit der Kamera festhielt. „Capturing the Friedmans“ ist ein Schauerstück, das die mit dem Fall verbundenen Ambivalenzen nicht vernebelt und so weit mehr verstört als manch indizierte Kunstblutorgie.

Mit dieser Oscar-nominierten HBO-Produktion eröffnete am Freitag die Sektion „TopTen Nonfiction“ des Kölner Film- und Fernsehfests Cologne Conference. Das Auswahlprogramm an Dokumentarfilmen ermöglicht einen Überblick über den Stand derzeitigen Fernsehschaffens und vermittelt unter anderem, dass Michael Moore in den USA nicht alleine steht. Für den Film „Control Room“ begleitete die arabischstämmige Jehane Noujaim („Startup.com“) während des Irakkriegs Redakteure und Korrespondenten des Senders al-Dschasira, dokumentierte deren Arbeit und zeigt dadurch die Kampfhandlungen beiläufig aus einem damals kaum vertretenen Blickwinkel.

Auf einen anderen Kriegsschauplatz führt die israelische Dokumentation „One Shot“. Nurit Kedar erhielt die Genehmigung, Scharfschützen der israelischen Armee zu interviewen. Eingefügt sind von den Soldaten selbst gedrehte Aufnahmen von klandestinen Einsätzen. Die Äußerungen der Mordbeauftragten, die freimütig von ihren Machtgefühlen, sogar von der Freude am Töten berichten, bleiben unkommentiert. Eine zwiespältige Angelegenheit: Zwar belegt der Film so die Verrohung der Soldaten – er kann aber, bei entsprechender Disposition, sehr wohl auch als Werbemaßnahme für den Beruf des „Snipers“ aufgefasst werden.

Die heitere Note vertritt Julian Petrillos „Word Wars“, eine rasante Erzählung über US-Scrabble-Spieler, deren einige ausschließlich für ihre Leidenschaft leben. Das Schlusskapitel über die Landesmeisterschaft übertrumpft mit seiner Spannung und Emotionalität locker so manchen Kinofilm, ereignet sich doch eine reale „from rags to riches“-Geschichte, die jedem Drehbuchautor den Vorwurf grober Verkitschung eingebracht hätte.

Humorvolle Aspekte hält auch „The Kiss that Would Last a Billion Years“ parat. Leon Giessen und Marcel Prins befassen sich mit den Grußbotschaften der 1977 gestarteten Voyager-Sonden. Was Allbewohner über die Natur des Menschen informieren soll, erweist sich jetzt als ausgesprochen sonderbar, bewirkt doch eine unbedachte Bildauswahl, dass man die Erdbewohner als fliegende Einbeiner wahrnehmen wird. Vielleicht wäre es klug, diese niederländische TV-Produktion schnellstmöglich hinterdreinzuschicken …