: Der skandinavische Weg
Das Potenzial für eine neue Linkspartei ist da: enttäuschte Arbeitnehmer, Arbeitslose und Opfer der Sozialreformen. Dennoch ist es fraglich, ob sie ihre Chance nutzen kann
Der SPD läuft das Proletariat davon. Und die „Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit“ will die Abtrünnigen einsammeln. Völlig absurd ist der Grundgedanke der linken Parteigründer nicht, auch nicht aus sozialdemokratischer Perspektive. Schließlich hat sich die neumittige Sozialdemokratie mittlerweile von Habitus, Lebenswelt und sozialen Interessen der Unterklassen abgekoppelt.
Die politisch unbehausten Unterschichten wurden so – und das europaweit – zur leichten Beute von Rechtspopulisten, auch von klassisch konservativen oder christdemokratischen Parteien. In Deutschland hat die CDU in den letzten eineinhalb Jahren die frustrierten Arbeiter aufgesammelt. Ohne große Anstrengungen und ohne große Versprechungen.
Eben das gibt den Parteigründern von links ein Stück Legitimation an die Hand: Ihr Vorhaben muss den Sozialdemokraten nicht zwangsläufig schaden, da es auf Wähler zielt, die die SPD nicht mehr erreicht. Eine neue dynamische Linkspartei könnte dabei helfen, dass die Unterschichten nicht weiter ins rechte Lager abwandern oder in völlige politische Apathie verfallen.
Natürlich, es gibt schon einige gute Gründe, am Erfolg eines linken Parteienprojekts zu zweifeln. Man hat schon zu viele Unternehmen dieser Art kläglich scheitern gesehen – zuletzt 1982 die „Demokratischen Sozialisten“ der von Herbert Wehner rüde aus der Fraktion und Partei bugsierten Abgeordneten Coppik und Hansen.
Um Erfolg zu haben muss eine neue Partei ein paar zentrale Bedingungen erfüllen. Der wichtigste, wenngleich natürlich triviale Punkt: Eine neue Linkspartei benötigt ein ausreichend großes Wählerpotenzial, das es ihr ermöglicht, bei Wahlen mehr als 5 Prozent zu erringen. Die Meinungsforscher – immer den neuen Trends auf der Spur – haben schon einmal nachgefragt: Laut Forsa würden 26 Prozent der Befragten die Gründung einer solchen Partei begrüßen, allerdings nur 3 Prozent sie auch wählen.
Ein solches Stimmungsbild sollte gewiss nicht überinterpretiert werden. Die Frage legt einerseits bei Unzufriedenheit mit der Politik der SPD eine Protesthaltung nahe, andererseits dürfte es den Befragten aber auch schwer fallen, ein Urteil über eine Partei abzugeben, deren programmatische und personelle Konturen sich noch gar nicht abgezeichnet haben, ja deren Namen sie noch nicht einmal recht kennen. Es bleibt also nur die abstrakte Beschreibung ihres Wählerpotenzials: enttäuschte Arbeitnehmer, prekär Beschäftigte, Unterprivilegierte und andere von Sozialkürzungen betroffene Bevölkerungsgruppen. Die eigentliche Frage ist, ob es einer neuen Partei gelingen kann, diese ideologisch, soziokulturell wie stilistisch äußerst heterogenen, wenn nicht sogar grundverschiedenen Schichten gleichermaßen anzusprechen.
Womit wir bei der Frage der grundsätzlichen Strategie einer neuen Linkspartei wären. Sie müsste darauf angelegt sein, sich als wählbare Alternative für breite, von allgemeiner politischer Unzufriedenheit wie konkretem Protest geprägte Bevölkerungsschichten darzustellen. Ein guter Teil dieser Zielgruppe dürfte sich dabei selbst gar nicht als besonders „links“ verorten. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass zumindest die „Wahlalternative 2006“ in einem Strategiepapier ausdrücklich darauf hinweist, dass es gerade nicht um die Gründung einer „explizit linkssozialistischen Partei“ gehe, sondern eher um eine Sammlungsbewegung unterschiedlichster Strömungen und Traditionen. Ein prätentiöses Ziel, dessen Verwirklichungschancen aber doch wohl eher gering sind. Man denke nur an die heftigen Flügelkämpfe und das Aufbrechen tiefster kultureller Gegensätze in der Frühphase der Grünen. Das hatte im postmaterialistischen Klima der frühen Achtzigerjahre seinen Charme, heute in materialistischer Not schreckte es ab.
Zudem: Die Strategie einer solchen Partei steht vor einem großen Dilemma. Gerade weil rot-grüne Bundesregierung wie auch schwarz-gelbe Opposition verkünden, dass es „keine Alternative“ zu einer Politik der Sparens, der neoliberalen Umstrukturierung und der schmerzhaften Einschnitte in das soziale Netz gäbe, muss eine solche Linkspartei konstruktiv und konkret realistische Alternativen zu diesem Kurs aufzeigen. Dennoch darf sie unter keinen Umständen ihre Oppositionsrolle aufgeben. Es lässt sich nämlich für Protestparteien feststellen, dass sie ihre Glaubwürdigkeit und damit die elektorale Basis verlieren, sobald sie sich in einer Regierungsbeteiligung verstricken. Dabei ist es gleichsam ein „ehernes Gesetz“, dass Bewegungen und Parteien Oligarchien ausbilden, die fast unausweichlich auf eine Beteiligung an der Macht zusteuern.
Die politische Agenda können Protestparteien nur indirekt beeinflussen. Aber darin liegt gleichzeitig auch ihre Stärke: Wenn sie bei Wahlen den etablierten Parteien genug Wählerstimmen fortnehmen, so fühlen die sich dazu gezwungen, deren Themen aufzugreifen und so dem Protest Motiv und Schubkraft zu entwinden. Auf diese Weise haben die Grünen in der parlamentarischen Opposition gegenüber CDU und FDP allein durch ihre Wahlerfolge vermutlich mehr neue Atomkraftwerke verhindert, als Umweltminister Trittin seit 1998 abzuschaffen vermochte. Und die „Republikaner“ mussten noch nicht einmal in den Bundestag einziehen, um eine Verschärfung des Asylrechts durchzusetzen.
Bleibt die Frage: Auf welche Inhalte müsste die neue Partei setzen, um erfolgreich zu sein? Soziale Gerechtigkeit und Bewahrung des Sozialstaates. Trotz der aggressiven Polemik, die in den mittlerweile ziemlich einheitlich neoliberal durchformten meinungsbildenden Medien gepflegt wird, sind die meisten Bürger gegenüber dem Wohlfahrtsstaat noch immer positiv eingestellt.
Mit der Okkupation dieser Themen würde eine Linkspartei nicht nur in ein Feld vordringen, das einst die klassische SPD besetzt hielt. Mehr noch: Es ließen sich viele der aktuell diskutierten politischen Vorhaben und Gesetze auf diese Grundthemen zurückführen und herunterbrechen, sodass eine innere Kohärenz zwischen konkretem Protest und der ideologischen Grundlinie hergestellt werden könnte.
Interessant dürften in diesem Zusammenhang auch Entwicklungen in Skandinavien sein: Hier haben sich die Socialistisk Folkeparti (SF) in Dänemark, die Sosialistisk Venstreparti (SV) in Norwegen, der Vänsterpartiet (VP) in Schweden und der Vasemmistoliitto (VAS) in Finnland erfolgreich als Parteien links der Sozialdemokratie etabliert – weil sie das skandinavische Wohlfahrtsstaatsmodell verteidigen.
Und wie soll eine neue Linkspartei ihre Botschaft vermitteln? Die „Wahlalternative 2006“ erklärt in einem Strategiepapier, ihre Agitation müsse „populär, klar und einfach“ sein. Populismus von links also. Die Vorstellung dürfte bei altemanzipatorisch orientierten Linken pawlowhafte Abwehrreflexe hervorrufen, wird Populismus bei ihnen doch regelmäßig mit dumpfen Parolen und rechter Ideologie konnotiert. Wenn man Populismus jedoch in erster Linie als Politikform sieht, lösen sich einige dieser normativen Furchtsamkeiten auf. Überhaupt: Was ist schon gegen einen populistischen Politikansatz einzuwenden? Im Grunde weiß schließlich jeder Sozialdemokrat, Gewerkschafter, Bürgerrechtsaktivist, dass er auf einer Kundgebung dann am meisten Energien freisetzt, wenn er in einfacher, bildreicher, zuspitzender Sprache die Kampagne führt und die Privilegierten der Gesellschaft attackiert.
Das Problem ist nur: Wo ist der Volkstribun der Linkspartei, der neue Danton, die auch medial virtuose linksrepublikanische Lichtgestalt, der moderne Robin Hood der „Berliner Republik“ also? Auf ihn, an der Spitze eines linkspopulistischen Parteiprojekts, käme es wohl an – ob man solche charismatische Versionen nun mag oder nicht. Aber der Charismatiker ist unter den überwiegend im drögen Funktionärsapparat der Gewerkschaften groß gewordenen Parteigründer nicht recht zu erkennen.
So ist das soziale, kulturelle und wohl auch politische Potenzial für eine neue Linkspartei in der Republik zwar durchaus vorhanden. Doch ob es organisatorisch und programmatisch genutzt, personell kongenial repräsentiert und agitatorisch angeführt werden kann, das erscheint weiterhin eher zweifelhaft. Das mag die Sozialdemokraten derzeit beruhigen. Aber ihre Probleme sind dadurch für die Zukunft keineswegs gelöst.
FRANZ WALTER, TIM SPIER