Kabarett der Neurosen

Der Wille zum politisch Unkorrekten ist immerzu erkennbar: In Köln hat „60 years“ der israelischen Regisseure Guy Weizman und Roni Havers Premiere – über die Beziehung Deutschland/Israel

Die Tänzer exerzieren zu cooler Musik zackigen Militärdrill – so schön kann Armee wohl nur bei einem Israeli sein

VON DOROTHEA MARCUS

Angela Merkel ist schwarz. Im rückenfreien Glitzerkleid und weißem Pelz spielt Anja Herden die erste deutsche Kanzlerin, die vor der Knesset sprechen darf. Sie stammelt und stolpert mit ihrem großen blauen Geschenk in der Hand, sie haucht atemlos, dass der Massenmord an den Juden unbeschreibliches Leid über Europa und die Welt gebracht hat. „Ich verneige mich“, schluchzt sie, „die Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson, das heißt, Israel: Mach, was du willst.“

In der Merkel-Szene ist wohl auf den Punkt gebracht, was das israelische Regie- und Choreografenpaar Guy Weizmann und Roni Havers umgetrieben hat: die tiefe, neurotische und faszinierende Verbindung von Israelis und Deutschen zu beleuchten, die dieses Jahr beide ihr 60-jähriges Staatsjubiläum begehen.

Einerseits macht sich die Schauspielerin Anja Herden stammelnd und taumelnd lustig über Merkel und ihr routiniertes, formelhaftes Bekenntnis: Über die devote Demutshaltung, die ewige Bestätigung der kollektiven Schuld, die Deutsche reflexartig abrufbar haben und die Politiker meist davor zurückhält, selbst den brutalsten israelischen Angriffskrieg klar zu kritisieren. Eine Parodie der deutschen Zwangszerknirschung hätte sich ein deutscher Regisseur wohl nicht so ohne weiteres erlauben dürfen, und wie nah Ambivalenz und Emotion in der Schuldfrage liegen, kann man an jeder deutschen Talkshow zu dem Thema ablesen, zuletzt bei Plasberg. Andererseits bietet Anja Herden auch ein mitleiderregendes und selbstzerquältes Bild. Und Merkels Rede wird von den mitwirkenden deutschen Schauspielern in einem Interview im Programmheft ehrfürchtig zitiert und die deutsche Kollektivschuld einvernehmlich und ernsthaft bestätigt, weil sie „vorsichtiger, wacher, aufmerksamer macht“.

Aber was bedeutet heute für knapp über 30-jährige Menschen noch das Wort „Kollektivschuld“, ist sie nicht vielmehr ein künstlich in der Schule eingehämmertes Konstrukt? Und doch weiß selbst der israelische Choreograf Guy Weizmann mit seinen marokkanischen Wurzeln und aktuellem Wohnsitz in Holland, wie sich Kollektivschuld anfühlt, wenn er an Israels Krieg im Gazastreifen denkt, sagt er im Programmheft. Nur die schwarze Schauspielerin Anja Herden fühlt keine, sagt sie auf der Bühne, weniger sogar als der französische Tänzer Nicolas. Ist sie also keine echte Deutsche, obwohl sie in Bielefeld geboren und aufgewachsen ist? Ist das Schuldgefühl gegenüber Israel das einzig zuverlässige deutsche Integrationskriterium? Mehr wert als alle Fragen des BRD-Integrationstests zusammen?

Smart rattert der Moderator Maik Solbach jene Fragen des Tests, die das größte realsatirische und ausländerfeindliche Potenzial haben, herunter – aber mehr als eine lustige Kabarettnummer ist es nicht. Dabei ist neben dem Holocaust die Einwanderung heute vermutlich eines der größten Themen, die Deutschland und Israel an entgegengesetzten Polen zusammenschmieden – in Deutschland eher als Störfaktor thematisiert, in Israel als staatliche Notwendigkeit.

Genau wie bekanntlich der Militärdienst. Die Tänzer der scheidenden Kölner Tanzkompanie Pretty Ugly exerzieren zwischen fahrbaren grauen Blöcken zu cooler Musik zackig israelischen Militärdrill, robben, rollen, tasten sich nach Waffen ab – so schön kann Armee wohl nur bei einem Israeli sein.

Dann gibt Wolfgang Maria Bauer zu lieblichen Celloklängen eine Anleitung zum Völkermord in acht Schritten: klassifizieren, mit Symbol versehen, entmenschlichen, organisieren, polarisieren, organisieren, ausrotten („bitte jetzt keine Musik“), und schließlich: verleugnen. Da kann man heute als Deutscher schon wieder ohne weiteres drüber lachen, so entfernt scheint es.

Es ist ein Abend der Häppchen, nein eher: der subjektiven, verwirrenden und möglichst schwergewichtigen Assoziationsbrocken, deren Perspektive und Qualität ständig wechselt und keinen Zusammenhang ergibt – und auch keine eindeutige Haltung einnimmt. Mal wird ein großer Celan-Text zitiert, dann ein Kalauer wie „Gas geben“ eingestreut, dann wieder eine banale Reisebeschreibung einer deutschen Gruppe darüber, dass orthodoxe Juden am Sabbath keine Fahrstuhlknöpfe drücken.

Der Wille zum politisch Unkorrekten ist immerzu erkennbar: Fünf nackt Männer halten abwechselnd Israel- und Deutschlandflaggen aus Papier vor ihre Geschlechtsteile. Aber soll das heißen, dass letztlich jede Nationalität prekäre Behauptung und willkürliche Verkleidung ist, obwohl der ganze Abend doch zu beweisen scheint, dass dies gerade bei Israelis und Deutschen ganz und gar nicht der Fall ist? Oder ist es ein plattes Bild dafür, dass wir eben alle in Wirklichkeit doch nur ähnliche nackte Wesen sind? Und dann prasseln Worte und Geschichten aus der Bibel, während Depeche Mode brausen oder die drei großartigen Musiker Mehmet Gül, Verena Guido und Bernd Keul arabisch angehauchte jiddische Lieder oder Schubert spielen.

Am Ende werden großgeschriebene Worte auf Hebebühnen herabgefahren, die willkürlich kombinierbar scheinen: „Ist Heimat ein Albtraum von gestern?“ oder „scham macht sexy“ – irgendwie vibriert alles vor Zusammenhang, aber ergibt letztlich doch keinen Sinn.

Formal ist „60 years“ zwar bemerkenswert gelungen: beeindruckend, wie die Schauspieler tanzen und die Tänzer sprechen können. Schade nur, dass die Inhalte von wochenlangen Diskussionen auf der Bühne letztlich so seicht und beliebig wirken.