: Armstrong siegt – und denkt an Laurent Fignon
Wenn der Texaner schon verlieren sollte, will er das als knappster Zweiter aller Zeiten tun. Bei acht Sekunden liegt bislang die Bestmarke
BERLIN taz ■ Wie er es prinzipiell zu handhaben gedenke, sollte das seit gestern wieder etwas unvorstellbarer Gewordene doch noch zur bitteren Wahrheit werden, hat Lance Armstrong schon einmal vorformuliert: Wenn er die Tour schon verlieren sollte gegen das Sommersprossengesicht aus dem Alten Europa, dann doch bitte schön zumindest so knapp wie kein Zweiter vor ihm in all den 100 Jahren. Wenn schon, denn schon – dann soll sein großes Duell mit Jan Ullrich wenigstens als „das engste Rennen in die Tour-Geschichte“ eingehen. Selbst wenn er an solch Ungewöhnlichkeiten wie Niederlagen denkt, denkt der 31-jährige Vierfach-Tour-Sieger in historischen Dimensionen: Der beste Verlierer aller Zeiten – darunter macht es einer wie Armstrong nicht.
Auch wenn die Gefahr seit gestern fürs Erste gebannt scheint: Durch seine Äußerung fährt Armstrong seither nicht mehr nur gegen Ullrich, sondern auch gegen den Franzosen Laurent Fignon. Der Mann trug 1989 nicht nur einen im Wind wehenden Pferdeschwanz, sondern vor der letzten Etappe, ein Einzelzeitfahren über 24 Kilometer von Versailles nach Paris, auch das gelbe Trikot. 50 Sekunden Vorsprung hatte Fignon gegenüber seinem ärgsten Widersacher, dem Amerikaner Greg LeMond –, und damit den Gesamtsieg so gut wie sicher in der Tasche, wie allgemein konstatiert wurde. Und dann beugte sich der Amerikaner ganz tief und windschlüpfrig über seinen Triathlonlenker, den heute alle fahren beim Kampf gegen die Uhr, der damals aber einer technischen Revolution gleichkam, und holte auf. Meter um Meter, Sekunde um Sekunde. 58 waren es im Ziel; nach 3.285 Kilometern der Tortour hatte LeMond Fignon tatsächlich noch abgefangen – auf den letzten Metern und mit lächerlichen acht Sekunden Vorsprung.
Der drittplatzierte Pedro Delgado machte die 89er-Tour gänzlich zum engsten Rennen aller Zeiten: Zwar kam der Spanier mit 3:34 Minuten Rückstand auf LeMond in Paris an, einen Großteil dieser Zeit aber hatte er bereits vor der ersten Etappe verloren: Beim Prolog erschien Delgado 2:40 Minuten zu spät am Start, offiziell, weil er das Abfahrtssignal nicht gehört, inoffiziell, weil er seine Startzeit verpennt hatte.
Zieht man diese Zeit ab, wäre auch Delgados Gesamtrückstand auf 54 Sekunden zusammengeschmolzen – und damit der fünftknappste überhaupt. Enger ging es nur zwischen Jan Jansen und Herman Vanspringel (1968/38 Sek.), Stephen Roche und – erneut – Pedro Delgado (1987/40 Sek.) sowie Bernard Thévenet und Hennie Kuiper (1977/48 Sek.) zu. Und natürlich zwischen LeMond und Laurent Fignon, dessen Rekord im Knapp-Verlieren Amstrong zu schlagen gedenkt – sollte er Ullrich doch noch ziehen lassen müssen, zum Beispiel beim Zeitfahren am Samstag.
„Dann“, so hat es der Amerikaner zudem angekündigt, „fahre ich nach Hause, trinke ein Bier – und komme im nächsten Jahr wieder.“ Laurent Fignon kann ihm dafür allerdings kaum als Vorbild taugen: Von der Niederlage gegen LeMond geschockt, gewann er nie wieder ein großes Rennen. FRANK KETTERER