: Kleine Schwester, großer Hase
Wenn der Begriff des Normalen verschwimmt: Im Hamburger „Eisenhans“-Projekt spielen Behinderte und Nichtbehinderte zusammen Theater. Wer sich die Texte nicht merken kann, bekommt einen eingebauten Assistenten
von Katrin Jäger
„Wo ist mein Kopfhörer?“, ruft Eva Troch und wühlt in den Kleiderhaufen auf den Stühlen. Sie und ihre 21 SchauspielkollegInnen hasten hinter der Bühne im Thalia in der Gaußstraße hin und her, linsen ungeduldig hinter dem Vorhang hervor. Morgen ist Premiere, und einige Szenen stehen noch nicht so besonders. Deshalb sind alle angespannt.
Auf der Zuschauertribüne hat der Regisseur Herbert Enge Platz genommen. Es ist schon halb zwölf, vor einer halben Stunde sollte die Probe beginnen, und immer noch fehlen Darsteller. Endlich kommt Jörg Mantei durch die Tür. Herbert Enges Ton ist ruhig, aber sehr bestimmt. „Du bist zu spät. Jetzt musst du dich umziehen, die blaue Hose und das blaue T-Shirt.“ Jörg verdreht die Augen, denn das ist wirklich anstrengend. Jörg sitzt im Rollstuhl und kann seine Glieder kaum bewegen. Jörn Behrens hilft ihm. Er ist Jörgs Betreuer vom Pflegedienst, beide spielen mit im „Eisenhans“ Projekt. Jörg aus Leidenschaft, Jörn weil er muss: „Ich mache mit, weil ich halt den Jörg betreue. Aber mein Traum ist das nicht, auf der Bühne zu stehen.“
So ganz nimmt man ihm seinen Missmut aber nicht ab, denn in der Pause sitzt Jörn draußen mit den anderen im Foyer, packt seine Stulle aus und juxt sich eins, zusammen mit Kyra Arndt. Wie einige ihrer MitspielerInnen hat sie schon mehrere Spielzeiten im „Eisenhans“-Projekt bestritten. Eigentlich wollte sie dieses Jahr gar nicht mehr dabei sein, nun versucht sie nach ihrem Hauptschulabschluss und einigen Praktika einen professionellen Einstieg ins Theatergeschäft. „Spielen, das ist halt mein Leben“, sagt sie, „eine Lehrstelle kriege ich eh nicht mit meiner Dyskalkulie“.
Für den „Eisenhans“ hat sie bereits mehrere Stücke gemeinsam mit Projektleiter Herbert Enge getextet. Diesmal ist sie ganz kurzfristig eingesprungen, „weil sie mich brauchten. Wir sind eine Familie, auch wenn man dann was anderes macht, trifft man sich immer wieder.“
Kyra hat viel gelernt im „Eisenhans“-Projekt. Über andere, aber auch über sich selbst. Vor allem verschwimmt der Begriff des Normalen völlig in dieser bunten Gruppe. Das findet auch Enges Assistent Tunçay Akçay. In der Türkei hat er die Schauspielschule absolviert und will auf jeden Fall weiter mit Behinderten arbeiten. „Die Solidarität ist toll, wie die Leute sich gegenseitig helfen, es gibt keine Hemmungen, man kann sofort anfangen zu improvisieren“, erklärt Tunçay, während Heinrich Schreiber ihm von hinten seinen monumentalen Stoffhasen auf die Schultern setzt und mit dessen Schlappohren liebevoll Tunçays Wangen streichelt.
Vor zwölf Jahren gründeten die Theaterpädagogen vom Thalia Treffpunkt gemeinsam mit dem „Freundeskreis Eisenhans“ und dem Verein „Leben mit Behinderung“ die Theatergruppe „für behinderte und nichtbehinderte Menschen“. Seitdem erarbeiten drei TheaterpädagogInnen mit ihren Gruppen Spielzeit für Spielzeit jeweils ein Stück. „Die Art der Behinderung ist mir dabei egal,“ sagt Enge. „Ich sehe ja im Spiel, wo die Fähigkeiten und die Grenzen liegen, die versuchen wir in die Inszenierung zu integrieren. So entstehen teilweise ungewohnte Spielweisen und Darstellungsformen“. Daniel Tietjens Markenzeichen zum Beispiel liegt im Clownesken, Bea fingert an ihrer Armbanduhr, wenn sie nervös ist, und Jörn lässt sich, wenn er eben keinen Bock hat, ein bisschen gehen auf der Bühne.
Ob beim Warm-up, beim Improvisieren oder im zweistündigen Durchlauf, Herbert Enge hält die Gruppe zusammen, mal liebevoll, mal sehr bestimmt. „Wir machen hier Theater, keine Behindertenpädagogik“, sagt er. Entscheidend für die Qualität der Inszenierung, die am Ende jeder Spielzeit im Thalia in der Gaußstraße aufgeführt wird, ist die Bühnenpräsenz, die Authentizität in der Rolle. Dafür stehen die DarstellerInnen mindesten einmal pro Woche auf der Probebühne, alle sechs Wochen findet eine Wochenendprobe statt. Ihre Stücke erfinden sie selbst, so wie ihr jüngstes, music (und mehr), das vergangene Woche Premiere hatte.
Es sei immer wieder toll, Auftritte zu erleben, die man vorher nicht für möglich gehalten habe, meint Herbert Enge. Wer sich die Stichworte nicht merken kann, bekommt kurzerhand eine Assistenz zur Seite. Die taucht dann im Spiel als kleine Schwester auf, die nervt und dazwischen quatscht, in Wirklichkeit aber das Spiel des Protagonisten rhythmisiert. In der kommenden Spielsaison soll zum ersten Mal auch eine Gruppe mit Jugendlichen an den Start gehen.
Infomationen zum „Eisenhans“-Projekt bei Herbert Enge im Treffpunkt des Thalia Theaters, Tel. 32 81 42 20
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