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Archiv-Artikel

„Ein eingeschränktes Konzept“

Bildungsstandards sind das neue Allheilmittel, mit dem die Kultusminister deutsche Schulen besser machen wollen. Marianne Demmer (GEW) erklärt, warum die Deutschstandards nichts wert sind und wieso man schlechte Schulen nicht schließen sollte

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Frau Demmer, die Zukunft des deutschen Bildungswesens hat begonnen.

Marianne Demmer: Ach ja? Was ist der Anlass für Ihren Optimismus?

Dass Deutschland über das neue Allheilmittel für Schulen und Lernen nicht mehr nur diskutiert, sondern die Medizin endlich verabreicht – die so genannten Bildungsstandards.

Ich kenne kein Bundesland, das bereits mit diesem neuen Werkzeug arbeitet. Sicher, die Kultusminister haben etwas vorgelegt, das sie Bildungsstandards nennen. Alle ernst zu nehmenden Wissenschaftler sagen uns allerdings: Das sind noch gar keine.

Woran mangelt es den Standards der Kultusminister?

Die Kultusminister verfolgen ein eingeschränktes Konzept. Sie haben Leistungsstandards für wenige Fächer vorgelegt. Wir haben in Deutschland aber traditionell einen Bildungsbegriff, der über das rein Fachliche hinausgeht. Was uns als GEW an den Standards zum Beispiel fehlt, sind fächerübergreifende Bildungsziele, soziale Kompetenzen, aber auch Qualitätsstandards für den Lernprozess.

Die Internationale der Bildung lehrt uns: Bildungsstandards sollen die Lehrpläne ersetzen. An die Stelle der dickleibigen Stoffsammlungen sollen wenige, einfache, gut verstehbare Standards treten, die Kompetenzen von Schülern definieren. Gelingt der KMK das mit ihren Standards?

Ja und nein. Am ehesten in Englisch und Mathematik, in Deutsch allerdings überhaupt nicht. Da fehlen die internationalen Vorbilder, und es finden sich unsystematische Anhäufungen von Lehrplanzielen. Unsere Forderung lautet daher, dass die KMK ihre Deutschstandards wieder zurückzieht.

Wie erklären Sie sich, dass das so gekommen ist?

Das hat mit der Arbeitsweise der KMK zu tun. Beamte aus jedem der 16 Bundesländer tragen jeweils aus ihrer Ländersicht etwas zusammen. Dabei kommt, wie so oft bei der KMK, der größte gemeinsame Nenner heraus, aber nichts Konzentriertes.

Was ist, in Ihren Augen, ein guter Standard?

Ein guter Standard könnte, ganz konkret, so aussehen: Schüler sind in der Lage, aus einer praktischen Aufgabenstellung, etwa der Wohnungsrenovierung, eine mathematische Prozedur abzuleiten. Sie können zum Beispiel berechnen, wie viel Farbe nötig ist, um die Wände eines so und so großen Zimmers zu weißeln.

Das ist ein guter Standard?

Ja, denn er beschreibt eine Kompetenz, die anwendungsorientiert ist. Lehrer können das sehr gut in Unterricht übersetzen. Und Eltern wie Schüler können sich etwas darunter vorstellen.

Was ist denn der Wesensunterschied zwischen einem Bildungsstandard und einem Lernziel, das im Lehrplan steht?

Im Grunde ist es nur eine andere Perspektive.

Was heißt das?

Ein Standard beschreibt, welche Kompetenzen ein Schüler in einem bestimmten Alter haben soll. Im Lehrplan steht, welchen Stoff die Lehrer und Lehrerinnen unterrichten sollen.

Können Sie erklären, wie durch so einen simplen Perspektivenwechsel die verquere deutsche Schule zu retten ist?

Ich kann schildern, welche Hoffnungen an „gute“ Standards geknüpft werden. Ob sie sich verwirklichen, bezweifle ich.

Okay, aber was könnte das neue Instrument bewirken?

„Gute“ Standards verändern im Idealfall die Perspektive auf das gesamte Lehr- und Lerngeschäft der Schule. Denn die Lehrkräfte müssen nun nicht mehr Stoffpläne exekutieren, sondern sie übernehmen die Verantwortung für das Erreichen der Standards. Die Schulen erhalten so sehr viel Freiheit, wie sie ihre Bildungsziele umsetzen wollen. Dabei können bessere Lernergebnisse entstehen – theoretisch.

Geht es nicht auch um eine neue Kultur des Prüfens?

Ja, Standards werden durch Tests und Vergleichsarbeiten überprüft.

Welcher Unterschied besteht zwischen einer Klassenarbeit und einem Test für einen Bildungsstandard?

Auch hier erfolgt ein Perspektivenwechsel: In der Klassenarbeit wird der durchgenommene Stoff überprüft und benotet – mit den bekannten Konsequenzen für die Bildungskarriere. Bei der Standardkontrolle soll vor allem die Wirksamkeit des Schulsystem und der Schulen im Mittelpunkt stehen – nicht die Leistung einzelner Schüler.

Und der Staat und seine famosen Kultusminister wissen dann künftig ganz genau, was sie in den Schulen besser machen können?

So einfach ist das nicht. Die Überprüfung der Standards sagt ja noch nichts über die Ursachen für das Pisa-Desaster. Uns als GEW ärgert zum Beispiel, dass die Kultusminister schon vor Pisa beschlossen hatten, dass die Probleme an der Schulstruktur, also des früh und scharf gegliederten Systems, nicht liegen können. Schon einen Tag nach Pisa wussten sie dann aber ganz genau, dass Standards nun die Heilung bringen.

Sie sagen selbst, dass die Standards ein Werkzeug sind, das man für vieles einsetzen kann. Wieso nicht endlich einmal so: Statt Schülern bleiben Schulen sitzen – sie werden geschlossen, wenn sie schlecht sind?

Eine Schließungsdrohung bewirkt keine Steigerung der Schulqualität, sondern eher das Gegenteil. Da machen die Schulen dicht.

Wie das?

Es wird keinen ehrlichen Test mehr geben.

Die Evaluierer kommen aber doch von außen.

Ach je, wir sehen doch, wie das in anderen Ländern läuft. Da sind halt am Testtag wundersamerweise keine schwachen Schüler mehr in der Klasse.

Dann findet sich nur noch die Population der Fingerschnipser in der Klasse?

So ungefähr.

Ist das nicht auch eine Ausrede der GEW? Sie sagen doch praktisch: Selbst wenn die Standards existieren, wenn sie in Aufgaben übersetzt und testbar sind, ist man noch nicht viel weiter.

Nein, das ist keine Ausrede. Alle Experten bestätigen uns, dass es keinen Masterplan dafür gibt, wo man schlechte Ergebnisse einer Klasse ursächlich verortet und wie man etwa mit schlechten Schulen umgeht.

Wo können Probleme liegen?

Es ist gar nicht so einfach herauszufinden, was denn nun genau das Problem ist. Nehmen wir den gravierenden Fall, dass 40 Prozent einer Klasse den geforderten Bildungsstandard nicht erreichen.

Das ist doch eindeutig schlecht.

Gewiss, aber wo liegt’s? Dafür kann es doch ganz viel Gründe geben. Die soziale Lage der Schule, eine kleine Gang in der Klasse hat beschlossen, dass sie keinen Bock mehr auf Schule hat. Die Klasse hat einen unfähigen Lehrer, oder das Schulklima ist nicht gut, weil sich das Kollegium nicht grün ist. Da kann man nicht mit der Schrotflinte draufhalten und die Schule wegen eines schlechten Testergebnisses schließen. Da helfen nur Ursachenforschung, Fortbildung – und gezielte Hilfen für Lehrer und Schüler.

Wie würde die GEW mit Bildungsstandards die Schulen wirklich besser machen?

Wir müssen uns in Deutschland auf grundsätzliche bildungspolitische Zielsetzungen verständigen. Etwa, dass mehr junge Leute zum Abitur geführt werden sollen, dass wir weniger Sitzenbleiber produzieren und die Zahl der Absolventen ohne Abschluss senken. Nur wenn das anerkannt ist, können Bildungsstandards nicht erneut dazu missbraucht werden, das Auslesesystem an deutschen Schulen sogar noch zu verschärfen.

Was ist Ihre Alternative?

Wir müssen uns endlich um eine Vertrauenskultur bemühen. Das erreicht man nicht durch Konkurrenzdruck und das Ausgrenzen von Schülern. Die Förderung der individuellen Stärken und der sorgfältige Ausgleich der Schwächen der Schüler gehören in den Mittelpunkt. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, den wir vornehmen müssen.