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Archiv-Artikel

Als Mutter Micale Rebellin wurde

Sie schreibt an den Vatikan und die Deutsche Bischofskonferenz: „Ich will Gleichbehandlung haben“

aus Stuttgart HEIDE PLATEN

Erika Micales Bibel liegt immer nachschlagebereit im Schrank, gelbe Zettel stecken zwischen den Seiten. An der Wand im Wohnzimmer in Stuttgart-Vaihingen hängen, hoch über bunten Bildern von südlicheren Ländern und venezianischen Gondeln, zwei Kruzifixe. Die Korrespondenz mit Priestern und Bischöfen ist ordentlich abgeheftet. Die 45 Jahre alte Katholikin hat sich für ihre zwei Söhne in Widerspruch zur Kirche gesetzt, beide sind schwul.

Der ältere der beiden möchte nicht öffentlich über Privates sprechen. Aber der Jüngere. Claudio, 26 Jahre, ist schlank, hat große braune Augen, eine leise Stimme, serviert im Wohnzimmer Kaffee und italienisches Gebäck. Er sagt sanft: „Ich bin so gerne so häuslich.“ Und Mutter schluckt nicht einmal mehr.

Als Erika Micale vor elf Jahren erfuhr, dass ihr jüngerer Sohn schwul ist, war das für sie nicht leicht. „So etwas wie ein Weltuntergang“, sagt sie. Sie und ihre drei Brüder sind streng erzogen worden, protestantisch, pietistisch, preußisch. Der Vater achtete als Hauptfeldwebel auch zu Hause auf Ordnung. Erika Micale kam 1962 mit ihren Eltern aus Norddeutschland nach Baden-Württemberg. Da war sie 14 Jahre alt und lernte nach der Haushaltungsschule brav Kontoristin. Insgeheim fand sie die jungen Männer, die die heimische Autoindustrie in den 60er-Jahren aus Italien angeworben hatte, attraktiver als deren deutsche Kollegen: „Die waren temperamentvoll und toll mit ihren dunklen Augen.“ Und: „Ich hatte damals schon meinen Dickkopf.“

Den setzte sie durch. Die Eltern fanden es nicht toll, als sie, inzwischen 23 Jahre alt, einen Sizilianer heiratete und zum Katholizismus konvertierte. Sie kamen nicht zur Hochzeit: „Prolet, Itakker und auch noch katholisch. Das war zu viel.“ Das Querlegen hat sie in den letzten elf Jahren noch einmal üben können. „Der Schock“ kam, als sie 1993 in Claudios Zimmer Liebesbriefe fand, nicht an eine Frau gerichtet, sondern an einen Mann: „Ich dachte, das ist eine Strafe Gottes. Mein Sohn ist pervers und treibt es mit Kindern.“

Claudio glaubt bis heute nicht, dass der Fund ein Zufall war. Seine Mutter fand, was er nicht mehr verbergen wollte. Aber Liebesbriefe seien es nicht gewesen, sondern Schlagertexte, die er für seine Bedürfnisse umgeschrieben hatte und Korrespondenz mit seiner Religionslehrerin. Der habe er sich offenbart und sie um Rat gebeten: „Ich hatte Angst vor dem Entdecktwerden, aber ich wollte es auch.“ Er gründete eine schwule Schülergruppe.

Währenddessen ging die Christin Erika Micale mit sich selbst ins Gericht, fühlte sich schuldig. Sie haderte mit Gott, suchte Hilfe in der Bibel, dachte an Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern wollte, und entschied: „Ich nehme meinen Sohn an.“ Der Brieffund löste erst nach und nach einen Knoten der Geheimhaltung, in den die Familie verstrickt war. Denn es stellte sich heraus: Auch der ältere Bruder war homosexuell. Auch er hatte das jahrelang vor den anderen verborgen. Die Schwester wusste Bescheid, schwieg aber und hatte „die Lügerei“ eigentlich längst satt. Claudio erinnert sich, dass nun er völlig überrascht und enttäuscht war: „Ich dachte, ich bin was Besonderes, und das fand ich cool.“ Erika Micale geriet in Panik, wegen des Ehemannes, „ich dachte, der bringt die Kinder um“, wegen der Nachbarn, „ich traute mich nicht mehr rauszugehen“, wegen der Verwandtschaft in Sizilien, „das verkraftet die Oma nicht“.

Der Vater ahnte noch immer gar nichts. „Dem haben wir alle noch fast zwei Jahre lang die Hucke voll gelogen“, erzählt Claudio Micale. Das, sagt die Mutter, „tut mir heute noch leid für meinen Mann“. Sie war ihrem neuen Wissen um die sexuelle Präferenz ihrer beiden Söhne zuerst hilflos ausgeliefert, setzte sich dann aber selbst einem Lernprozess aus, las alles, was sie finden konnte. Sie besuchte Veranstaltungen, wagte sich auch in den Buchladen für Schwule und stammelte dort verlegen: „Ich suche was für Eltern mit andersrummen Söhnen“: „Das Wort schwul konnte ich damals noch nicht in den Mund nehmen. Ich habe Claudio damals nur gefragt: ‚Bist du andersrum?‘ “ Dafür, sagt sie, „schäme ich mich heute noch“.

Dass der Vater sich dann gar nicht sonderlich aufregte, die Neuigkeit gelassen hinnahm und akzeptierte, dass Homosexualität keine Krankheit und die Söhne glücklich sind, dass die sizilianische Großmutter ihre Enkel nicht verstieß, und die Nachbarn eher interessiert als entsetzt reagierten, war eine befreiende Erfahrung, die Erika Micale nur langsam verstand. Sie suchte zuerst Beratung bei einem Pfarrer: „Der konnte mir nicht helfen.“ Dann traute sie sich in eine Elterngruppe: „Das war wie am ersten Schultag oder wie Verliebtsein, so ein negatives Kribbeln im Bauch.“ Dass sie endlich von ihrem „Doppelpack“ erzählen konnte, das habe ihr „wirklich gut getan“, zumal auch ihr Mann sie einige Male begleitete.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Erika Micale warb in den „einschlägigen“ Zeitungen für die damals winzige Gruppe „Eltern homosexueller Kinder“, deren Vorsitz ihr 1995 übertragen worden war, bot selbst Gespräche und Beratung an. Und wurde immer mutiger. Die erste Begegnung mit anderen Schwulen und Lesben hatte sie erst 1996 beim Einweihungsfest für deren Kulturzentrum „Weissenburg“ in einer ehemaligen Schnapsfabrik in der Innenstadt. Als sich da ein gleichgeschlechtliches Paar küsste, erinnert sie sich, habe sie aber erst einmal „einen puterroten Kopf“ bekommen, sich „einfach nicht wohlgefühlt“ und sei schnell wieder gegangen. So aber wollte sie das nicht stehen lassen. „Auf einmal“ habe sie gedacht: Wie müssen die sich bloß fühlen? Sie lernte, sich in andere hineinzuversetzen und entdeckte die Diskriminierung von Minderheiten in ihrer Kirche.

Seither streitet sie mit Theologen, Priestern, Äbten, Bischöfen und fordert den Segen der Kirche für schwule Paare. Zitate aus dem Alten Testament beantwortet sie bibelfest mit solchen aus dem Neuen. Dem Vers „Du sollst nicht neben einem Mann liegen wie neben einer Frau, denn das ist vor Gott ein Gräuel“ (1. Mose, 16) hält sie andere Verse entgegen. Etwa Galater 3,26. „Denn ihr seid durch den Glauben Gottes Kinder in Jesus Christus.“ Das müsse für alle gelten. Der Papst, der nur die heterosexuelle Ehe als Sakrament gelten lasse, sei für sie „auch nur ein Mensch wie jeder andere“. Sie verschickt Briefe, schreibt an den Vatikan, die Deutsche Bischofskonferenz, hält Vorträge, lädt zu Diskussionen ein und trifft einzelne Kirchenobere und Politiker zum Gespräch. Einige reagieren ablehnend, andere positiv.

„Meinem Mann haben wir noch fast zwei Jahre die Hucke voll gelogen. Das tut mir heute noch Leid für ihn“

Der Kardinal Walter Kasper schrieb ihr einen verständnisvollen Brief, in dem er zum Ende die derzeit unverrückbare Position seiner Kirche festschrieb: „Dennoch entspricht gelebte homosexuelle Praxis nicht dem vollen Sinn, den Gott uns mit der Schöpfungsgabe der Sexualität mitgegeben hat.“ Der von ihr geforderte Hirtenbrief zum Thema sei „kein geeignetes Mittel“ die innerkirchliche Diskussion zu befördern: „Ich denke, dass die Zeichen … behutsamer und ohne viel Aufsehen gesetzt werden müssen.“ Sie verlange, sagt Erika Micale, „ja gar kein öffentliches Bekenntnis“, wohl aber die vollen Rechte für homosexuelle Paare: „Ich gebe nicht nach. Ich will die Gleichbehandlung haben.“

Seine Mutter nennt das das Recht zur „Verpartnerung“. Claudio Micale findet „den Ausdruck doof“: „Ich will die Homo-Ehe!“ Dass die Stadt Stuttgart die Homo-Ehen aus dem Standesamt in die umliegenden Bezirksämter verbannt hat, regt Erika Micale auf, Claudio nicht: „Mir ist das egal.“ Und schon streiten die beiden. Na ja, gibt der Sohn zu, in der Kirche würde auch er gerne heiraten: „Ich bin ein bisschen altmodisch. Ich mag das ganze Drumherum.“ Der Mutter geht es, sagt sie, „ums Prinzip“. Der Kampf gibt ihr Halt: „Früher war ich das heulende Elend. Heute bin ich Rebellin.“

Der Streit für die Rechte ihrer Söhne, der Kontakt mit verzweifelten Eltern hat sie stark gemacht, so stark, „dass es mir nicht mehr weh tut, wenn die Leute etwas Negatives sagen“. Außerdem habe sie über dieser Arbeit „die Scheuklappen abgelegt“, viele Menschen kennen gelernt, Gespräche geführt, an die sie früher nicht im Traum gedacht hätte: „Die Welt ist für mich offener geworden.“ Seit 1995 hat sie drei Fotoalben voll gesammelt mit Bildern von Begegnungen mit Prominenten und weniger berühmten Menschen. Die Familie spielte in der Fernsehdokumentation „Segen für Schwule“ und im 2003 auf der Berlinale gezeigten Film „Ich kenn keinen – Allein unter Heteros“ mit. Der Weg dahin, sagt sie heute, sei für sie lang und schmerzlich gewesen. Am Anfang seien viele Rat suchende Eltern verzweifelt, weinten, hätten Schuld- und Schamgefühle: „Es ist ein Lernprozess, den man als Eltern durchmachen muss, wenn man seine Kinder behalten will.“

Auch das Hobby ist in den Dienst der Sache gestellt. Erika Micale häkelt in Regenbogenfarben. Die symbolisieren für sie: „Farbe bekennen!“ Sie häkelt bunte Topflappen, kleine Baumwollkreuze. Am Nachmittag läuft sie über die Stuttgarter Königsstraße, Schirm und Handtasche fest im Griff, ein Regenbogentuch um den Hals geschlungen. Junge Männer und Kollegen, eine Mutter aus der Elterngruppe grüßen sie. In ihrem Schlepptau scheint Stuttgart ein Dorf, alles eine große Familie. Im Schwulen- und Lesbenzentrum Weissenburg sitzt sie selbstverständlich am Tisch, lugt über die Goldrandbrille und wird dort herzlich begrüßt. Sie zeigt die Ausstellung zum zehnjährigen Jubiläum der Elterngruppe im Juni 2003, eine Chronik auf zwölf Wandtafeln, Inserate, Flugblätter, Broschüren. Und weiß mit Gottvertrauen: „In der Bibel steht nicht, Gott schuf den Menschen heterosexuell.“