: Versuch über die Gründe eines dauernden Streits
Die Jüdische Gemeinde ist mal wieder zerstritten. Erneut ist ein Mitglied des Vorstands aus Protest zurückgetreten. Woher kommt dieser Dauerkonflikt?
VON PHILIPP GESSLER
Streit in der Jüdischen Gemeinde – wer mag unter dieser Überschrift überhaupt noch etwas lesen? Seit Jahren kommt die mit etwa 12.000 Mitgliedern größte jüdische Gemeinde der Bundesrepublik nicht aus solchen Schlagzeilen heraus, und auch jetzt gibt es wieder einen öffentlich ausgetragenen Streit: Der Bevollmächtigte für Kultusfragen, Benno Bleiberg, ist als Vizevorstandsmitglied zurückgetreten, aus Protest gegen ein Vorgehen seines Vorstandskollegen, des Personalchefs Arkadi Schneidermann. Im April hatte der Historiker Julius Schoeps ebenfalls aus Protest sein Amt als Vizechef der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Warum dieser Streit?
Dazu eine Gegenfrage: Warum soll es keinen Streit geben? In jedem Kaninchenzüchterverein gibt es Angegifte, im Erzbistum kocht es seit Jahren schon, wenn auch nicht so öffentlich – warum soll es in der Jüdischen Gemeinde anders sein? Und natürlich ist auch an dem Einwand etwas dran, dass die häufige Berichterstattung über solche Streitereien zumindest latent vorhandene antisemitische Klischees von angeblich „zänkischen Juden“ bedient. Ist Streit in der Jüdischen Gemeinde vielleicht deshalb für die Öffentlichkeit so interessant, weil diese Nachricht verborgene antisemitische Vorurteile zum Klingen bringt?
Jahrelang hatten die internen Reibereien und öffentlichen Anschuldigungen in der Jüdischen Gemeinde eine gewisse Logik, da im Gemeindeparlament, der Repräsentantenversammlung (RV), kaum eine Mehrheit für den jeweiligen Vorsitzenden vorhanden war. So kam es zu Dauerblockaden in der Gemeindeführung, Streit war programmiert.
Das aber müsste sich eigentlich seit den letzten (Wiederholungs-)Wahlen im November 2003 verändert haben: Damals errang die Gruppe „Kadima“ unter der Führung des Rechtsanwalts Albert Meyer 20 von 21 Sitzen – eine 95-Prozent-Mehrheit in der RV. Meyer wurde Anfang des Jahres zum Gemeindechef gewählt. Es gab viele Posten zu verteilen – warum gibt es dennoch wieder Streit, den manche sogar für gravierender halten als in den Jahren knapper Mehrheiten?
Immer wieder hört man Mitglieder der Jüdischen Gemeinde selbst darüber Witze machen, dass Streit eben dazu gehöre – nach dem Motto: „Zwei Juden, drei Meinungen“. Das aber kann es nicht sein, unterstellte es doch eine angebliche Disposition von Juden für Streit. Und es erklärte auch nicht, warum die Auseinandersetzungen immer wieder ins Persönliche gehen.
Ein Beispiel waren die öffentlichen Ausfälle Schneidermanns gegen Bleiberg in der RV-Sitzung am Mittwochabend. Schneidermann sprach in kaum gezügelter Kriegsrhetorik davon, Bleiberg habe einen „feindlichen Angriff“ gegen „Kadima“ gestartet, sein Vorgehen gleiche „Taten eines Amokläufers“.
Der Angegriffene, ein Jurist, hatte Schneidermann vorgeworfen, er habe sich rechtswidrig Akten der Kultusverwaltung vorlegen lassen, um eine Angestellte der Gemeinde unter Druck zu setzen: Wenn sie sich nicht versetzen lasse, so die angebliche Drohung, würde gemeindeintern lanciert, dass sie sich ihre Mitgliedschaft in der Gemeinde erschlichen habe. Sie sei gar keine Jüdin. Bleiberg hatte daraufhin den Rücktritt Schneidermanns gefordert.
Aber dieser hässliche Streit ist nur ein Symbol – die Frage bleibt: Warum dieses Dauergerangel?
Eine Erklärung könnte sein, dass die Gemeinde aufgrund ihrer auch öffentlichen Aufgaben, etwa dem Betreiben von Schulen und eines Krankenhauses, einfach zu viel Geld zu verwalten hat – ein guter Nährboden für Streit, seit Alters her und überall. Eine weitere Ursache für den Dauerstreit könnte darin liegen, dass die Jüdische Gemeinde ständig und teilweise bis ins Detail unter öffentlicher Beobachtung steht. Auf die meisten vergleichbaren Institutionen schaut man nicht mit solcher Intensität. Interner Streit kann so besser unter der Decke gehalten werden. Außerdem verleitet das Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit allzu viele Repräsentanten dazu, sich über Nichtigkeiten aufzuspielen. Die RV-Sitzungen waren in den vergangenen Jahren für die Repräsentanten und Zuhörer schlicht eine Qual.
Hinzu kommt, dass die Repräsentanten der Gemeinde ganz unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft sind. Vielleicht liegt ein Grund für den Dauerstreit aber auch darin, dass es ihr nach dem Aderlass des Holocaust an einem breiten Führungsreservoir intellektueller Klasse mangelt, wie ein New Yorker Jüdin einmal mutmaßte. Die Schlagzeile „Streit in der Jüdischen Gemeinde“ werden die Zeitungen auch deshalb wohl noch lange drucken müssen.