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Archiv-Artikel

Nach der Reform ist vor der Reform

Experten tüfteln an neuer Krankenversorgung: Feste Beiträge für alle oder eine neue Bürgerversicherung

Feste Prämien für alle belasten vor allem die Schlechterverdienenden mehr als heute

BERLIN taz ■ Dieser Vorwurf gegen Gesundheitsreformen kommt immer: dass die Reform „kein großer Wurf“ sei. Nachdem die „Eckpunkte“ zur Gesundheitsreform Anfang der Woche bekannt wurden, war Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) unter den Ersten, die diese Vokabeln strapazierten.

Ihr Vorwurf greift jedoch zu kurz. Denn eine „Jahrhundertreform“ war auch nicht geplant. Die Beschlüsse der Fünf-Parteien-Runde sollen 23 Milliarden Euro aus dem 140-Milliarden-Euro-System herausschneiden, um die Kassenbeiträge zu senken – mehr nicht. Doch was Lautenschläger und andere Unionspolitiker nun fordern, ist: eine Umstellung der Finanzierung des Systems. Sie wollen die „Kopfpauschale“.

Gleichzeitig entdeckt auch der grüne Außenminister sein Herz für die Sozialsysteme und fordert die „Bürgerversicherung“. Joschka Fischer sagte gestern der Financial Times Deutschland, die ganze Regierung wolle den „Systemwechsel“. Rot-Grün neigt eher zur Bürgerversicherung.

Bürgerversicherung gegen Kopfpauschale – auf eine Entscheidung zwischen diesen beiden Finanzierungssystemen hat sich die Diskussion um die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems zugespitzt. Es war die Rürup-Kommission, die im April erklärte, beide Finanzierungsarten seien geeignet und besser als die Gegenwart – und dazwischen gebe es nichts. Im August nun werden Kommissionschef Bert Rürup, der Kopfpauschalist, und sein Gegenspieler Karl Lauterbach, der Bürgerversicherer, einen Zahlenberg vorlegen. Sie wollen durchrechnen, was die eine und was die andere Alternative kostet – und wer dafür zahlt.

Ziel beider Alternativen ist, die Finanzierung der Gesundheit von den Löhnen abzukoppeln. Derzeit wird die Gesundheitsversorgung von 70 Millionen Bundesbürgern mit den Krankenkassenbeiträgen von 34 Millionen Arbeitnehmern und 16,7 Millionen Rentnern bezahlt. Der Rest der Bevölkerung ist vornehmlich privat versichert.

Ein Systemwechsel, der lange Übergangsfristen bräuchte, würde diese Verteilung sprengen. Die Kopfpauschalen nun sind festgelegte Prämien – hierbei geht man von etwa 200 Euro pro Kopf und Monat aus, die von Arm und Reich gleichermaßen bezahlt würden, und zwar an gesetzliche wie private Kassen, die untereinander konkurrieren würden. Der jetzige Beitrag zur Krankenversicherung, der hälftig von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlt wird, würde komplett als Lohn an die Arbeitnehmer ausgezahlt. Dadurch sänken die Lohnnebenkosten, und der Arbeitnehmer hätte das Geld, um erstens die Kopfpauschale und zweitens mehr Steuern zu zahlen – die würden wiederum gebraucht, um „soziale Härten“ abzudecken.

Denn Familien dürften nicht mit den Kopfpauschalen für Kinder belastet werden, Arme müssten steuerliche Zuschüsse bekommen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat ausgerechnet, dass rund 20 Milliarden Euro steuerlich umverteilt werden müssten. Das DIW geht jedoch davon aus, dass die Senkung der Lohnnebenkosten und die zusätzlichen Einkommenssteuern davon den Löwenanteil wieder „einspielen“ würden.

Die Befürworter der Bürgerversicherung glauben an eine solche Rechnung nicht. Außerdem, argumentieren sie, bleibe die Ungerechtigkeit ja erhalten, die darin steckt, dass Gutverdiener die gleiche Pauschale zahlen wie Wenigerverdiener – steuerlich entlastet würden schließlich nur Arme. Die Bürgerversicherer meinen daher, die Koppelung ans Einkommen müsse nicht nur erhalten, sondern sogar ausgedehnt werden: Nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Selbstständige und Beamte sollen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zahlen, und zwar nicht nur vom Verdienst, sondern von allen Einkommensarten, also etwa von Zinsen und Mieten.

Gegen eine solche „Zwangsversicherung“ wettern natürlich nicht zuletzt die Privatkassen, die gestern vorsorglich mit einer Verfassungsklage für den Fall drohten, dass ihnen ihre Klientel geraubt würde.

ULRIKE WINKELMANN