Begehren im Textbrodeln

Erst einmal zölibatär leben, dann weiterdenken: Thomas Meineckes Diskursroman „Jungfrau“

VON SUSANNE MESSMER

Hätte dieser Roman, so stöhnt man auf den ersten fünfzig Seiten, eine Art Beipackzettel, so stünde darauf zu lesen: Dieses Buch ist ein erkenntniserhellendes Mittel und wird, falls nicht anders verordnet, stets mit angespitztem Bleistift, dreimal täglich auf den Knien in der U-Bahn zur Uni oder am heimischen Schreibtisch mit Internetzugang zum Googeln nach Bedarf verordnet. Es sollte nicht zugeführt werden, wenn Sie nach einem langen, arbeitsreichen Tag auf der Suche nach Unterhaltung oder Zerstreuung sind, Einschlaflektüre brauchen oder in eine Parallelwelt einzutauchen wünschen, die für die Dauer des Lesens die alltäglichen Sorgen unterdrückt.

Thomas Meinecke hat mit „Jungfrau“ einen neuen Diskursroman über Körperpolitik geschrieben, seinen fünften inzwischen, und das, so viel weiß man mittlerweile, verspricht Knochenarbeit. Der Plot ist wie üblich spindeldürr und nebensächlich, die Figuren totenblass, wenn auch etwas weniger blass als zuvor, aber immer noch blass – doch wer dies dem Autor vorwerfen wollte, der würde wahrscheinlich zur Antwort bekommen: Gut so, denn wer spricht, ist nicht so wichtig wie das, worüber gesprochen wird. Und: Ich bin nur der Filter, durch den die Welt läuft, und die Mischmaschine, die sie zum Klingen bringt. Es geht also nach wie vor ums groovige, postmoderne Erzählen gefährlichen Halbwissens, wie es Doppelagenten nun mal pflegen: Thomas Meinecke ist, auch das weiß man schon lange, nicht nur als Autor unterwegs, sondern auch als DJ und Musiker – entsprechend weit gestreut sind seine Bezüge.

Wir haben es bei diesem Buch also mit einem sortierten, aber hochkomplizierten Zettelkasten zu tun, den man von vorn nach hinten durchlesen kann oder auch von hinten nach vorn oder, wenn man sich eher für dies interessiert als für das, auch nur in Auszügen und später dann noch einmal in anderen Auszügen. Dabei geht es im Allgemeinen um die Konstruiertheit kultureller Selbstverständlichkeiten wie Sprache und Geschlecht. Speziell aber, und das unterscheidet „Jungfrau“ von seinen Vorgängern, werden außerdem ebenso seltene wie seltsame Themen wie die Frau im Jazz, die Frau in der Kirche und – Achtung, festhalten! – katholischer Poststrukturalismus und die Politik des Versagens angespielt. Und so kompliziert es sich besonders mit Letzteren verhält, so wunderbar ist es genau dieses Thema, das einen nach den ersten fünfzig Seiten bei der Stange hält.

Zum allerersten Mal nämlich lässt Thomas Meinecke durchblicken, wie er Geschichten erzählen würde, wenn er sie denn erzählen wollte, indem er seine Figuren, so wenig sie auch vorkommen, probieren lässt, was sie im Pop und im Jazz, in der Literatur, der Philosophie, im Kino, Theater, den „unübersichtlichen Tiefen weltumspannender Netzwerke“ und sonst überall so aufstöbern, überdenken und natürlich in aller Breite diskutieren. Die Hauptfigur mit dem albernen Namen Lothar Lothar studiert nämlich nicht mehr Theaterwissenschaft, sondern katholische Theologie und entscheidet sich eines Tages, erst einmal zölibatär zu leben. Just in diesem Moment trifft er aber die schöne Jazzmusikerin Mary Lou, die beiden verknallen sich heftig und wollen sich in dem Maße immer unbedingter, in dem sie sich nicht haben dürfen. Und dem Leser, dem geht es gewissermaßen ganz ähnlich wie diesem verhinderten Paar.

Geradezu lüstern saugt man diese kleine Prise Plot in sich auf – und giert, je endloser die „narrativen Durststrecken“ geraten, wie Meinecke sie im Buch ironisch auf ein anderes Buch bezogen selbst benennt, immer mehr nach der Handlung, dem Erdachten, das so viel saftiger und eleganter scheint als alle Wirklichkeit aus zweiter Hand. Und versteht plötzlich sogar, wenn man von alldem, was hier verhandelt, wird, nur wenig gehört hat und es zunehmend schwer fällt, Bezüge und Zusammenhänge herzustellen: Natürlich! Das Begehren wächst mit der Entsagung! Was wäre der Genuss, würde man nicht auch die Hindernisse genießen, die ihn immer weiter aufschieben?

Kurz gesagt, man gewöhnt sich einmal wieder an Thomas Meineckes Textbrodeln, seine nach wie vor ansteckend emphatische Spurensuche, an all das viele, verschlungene Zeug ohne Mitte, Anfang und Ende und mit jeder Menge Abbiegungen, ja, man beginnt sogar, ein wenig in ihnen zu schwelgen: in den kryptischen Texten der katholischen Mystiker Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyer, der Geschichte der Heiligen Therese von Lisieux, den steilen Abstürzen diverser Jazzmusikerinnen wie Jutta Hipp, und was das alles mit der Schauspielerin Maria Montez, dem schalkhaften Humor Jean Pauls und der Idee Paul Claudels von der unmöglichen Liebe zu tun hat. Und am Ende, da ist man richtiggehend versöhnt, als der Roman, der keiner ist, sich treu bleibt, als es zwischen Lothar Lothar und Mary Lou fast zum Äußersten kommt, aber wirklich nur fast und nicht ganz. Lothar Lothar verheddert sich im BH seiner Liebsten, aber er gibt nicht nach, er wird niemals nachgeben, sondern „platziert einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn“ und verschwindet, „Punkt 14 Uhr c.t., im Auditorium Maximum“.

Thomas Meinecke: „Jungfrau“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, 347 Seiten, 19,80 Euro