: Totgesagt und lebendig
In Wacken bei Itzehoe treffen sich von Donnerstag bis Samstag Zigtausende zu Europas größtem Heavymetal-Festival. Wer hin und wieder einen Apfel isst, darf sich auf einige innovative Bands freuen. Alle anderen erleiden die gesundheitlichen Folgen exzessiven Fertigfrikadellenkonsums
Jens Buhmann sitzt für die Grünen im Stadtrat von Reinbek. Der Jungunternehmer und Vogelkundler ist ein Liebhaber härterer Klänge, der sich vom Leipziger „With Full Force“ bis zum „Force Attack“ in Rostock kaum ein Festival entgehen lässt.
Wenn er dort hin und wieder einen Apfel und eine Flasche Mineralwasser auspackt, hat das wenig mit seiner Parteizugehörigkeit und den damit verbundenen Klischees zu tun, als mit der am eigenen Schenkel gemachten Erfahrung, dass die festivalübliche Mixtur aus Schweinefleisch und Bier, gesundheitlich betrachtet, eine unheilvolle ist: „Vor vier Jahren mussten mir Sanitäter in Wacken mehrere Kalziumspritzen in die Unterschenkel setzen, damit ich überhaupt losfahren konnte“, erzählt der Mittdreißiger von den Folgen eines schmerzhaften ernährungsbedingten Dauerkrampfes.
Des Sanitäters Leid ist des Einzelhändlers Freud, wird er doch im Sommer die beharrlicheren Teile seines Sortiments los. Denn bei sommerlichen Temperaturen überleben nur Lebensmittel den zweiten oder dritten Tag im Zelt, die von einer zentimeterdicken Plastikschicht umhüllt, also biologisch tot sind: Die eingeschweißte Frikadelle, Allzweckwaffe gegen ungebetene Gäste, wird bei den einschlägigen Discountern daher genauso palettenweise gehortet wie Dosenfisch, diverse Bierimitate sowie eine Erfindung, die verantwortungsvolle Menschen sofort dem diensthabenden Polizeirevier melden, Festivalbesucher aber mit einem beseelten Lächeln erstehen: „Curry King“ – ein fertig geschreddertes, auf alle Sinne fäkalisch wirkendes Wurstimitat im roten Gallert, das im Kunststoffschälchen verkauft wird.
Doch so konservativ die Ernährungsgewohnheiten beim diesjährigen Klassentreffen der Anhänger härterer Klänge auch sein werden – die Veranstalter haben sich bei der vierzehnten Neuauflage des einstigen Dorffestes alle Mühe gegeben, den Szene-internen Ruf nach Innovation zu erhören. Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, dass mit Twisted Sister am Freitagabend eine Band headlinet, die auch 50-Jährige daran erinnert, dass nicht alle Kindheitserinnerungen automatisch schön sind.
Im Vorabend-Programm tummelt sich jedoch auf den vier Bühnen einiges, das es wert wäre, erhört zu werden: Bereits am Donnerstagabend, wenn erst einige hundert Metalfans ihre Zelte aufgebaut haben, tritt mit Annihilator aus Kanada eine der technisch versiertesten Bands des Genres auf. In Flames aus Schweden haben es geschafft, sich mit jedem Album zu steigern, ohne ihre enorme Spontaneität und Spielfreude preiszugeben. Gespannt sein darf man auch auf Soilwork, die es meisterhaft verstehen, eingängige Melodien so zu arrangieren, dass sie auch den Liebhabern härtester Klänge Freude bereiten. Im Vorprogramm von Children of Bodom lieferten sie im Frühling in der Hamburger Markthalle bereits eine eindrucksvolle Hörprobe ab.
Doch trotz allem – daran, dass die ungeneigte Öffentlichkeit dem seit nunmehr 25 Jahren virulenten Phänomen Heavymetal mit Gleichgültigkeit begegnet und diesen Musikstil alle Jahre wieder totsagt, wird auch das diesjährige Drei-Tages-Festival nichts ändern können. Ganze Busladungen jüngerer Portugiesen, Italiener und Japaner, die bereits seit Tagen diverse Warm-up-Parties in Norddeutschlands Großstädten bevölkern, scheinen sich jedoch davon nicht beeindrucken zu lassen. Ob das alles auch ein klein wenig mit den dargebotenen Klängen zu tun hat? Dass Menschen extra aus Tokio oder Athen anreisen, um die gesundheitlichen Folgen exzessiven Fertigfrikadellenkonsums auszuprobieren, wäre eine andere Interpretationsmöglichkeit. CHRISTOPH RUF
Wacken-Open-Air, 31.7.– 2.8. in Wacken (bei Itzehoe), Tickets bei allen bekannten VVK-Stellen, Restkontingent und Parktickets vor Ort