: Eine Frage der Iris
Theorie und Technik: Warum ist der Akt des Sehens unsere bevorzugte Sinnesleistung?
Der Beglaubigungsdruck, dem politische Visionäre unterliegen, ist schier unglaublich. Aus Angst, vor dem retrospektiven Blick der Zeithistoriker einmal als Lügenbolde dazustehen, zerren sie als Ultima Ratio sogar Fotos hervor, auf denen verstümmelte Leichen drapiert sind wie für eine Einführungsvorlesung in Pathologie. Und eine Pathologie des Medialen darf man es durchaus nennen, wenn nichts mehr „für wahr“ und nichts mehr für voll genommen werden kann, das ohne Zoom und voyeuristische Qualität auskommt. Jede zeitgenössische theatralische Sendung, ob nun der berühmte Cum-Shot im Porno oder eben der erfolgreiche Abschuss von Udai und Kusai, baut schon auf diese Liebe zum Detail und Gedächtnismonument.
Colin Powell schien dies zu beherzigen, als er seine legendäre Diashow im UN-Sicherheitsrat abzog, verfehlte dann aber vor lauter Kuchendiagrammen gerade das, was er doch umgekehrt von Saddam verlangte: nämlich abzurüsten. Stattdessen setzte er viel zu sehr auf die angebliche Beweiskraft von Bildern und die Deutungshoheit von Amts wegen.
Spätestens seit jenem Tag, als die Visionäre des pictorial war für uns die Kunst des Entzifferns übernahmen, ist die epistemologische Kluft zwischen Glauben und Wissen – nicht nur im transatlantischen Verhältnis – wieder offenkundig geworden. Was lässt uns eigentlich, so wäre mit Hans Jonas („The Nobility of Sight“, 1954) zu fragen, den Akt des Sehens zur bevorzugten Sinnesleistung machen, ja, und gleich auch noch mit der Erkenntnis schlechthin gleichsetzen?
In ihrem Beitrag für den Sammelband „Bühnen des Wissens“ versucht Sybille Krämer, darauf eine Antwort zu geben. Demnach ist das „dem Sehsinn per se zugesprochene Vermögen zur Objektivierung auch das Ergebnis kulturhistorisch kontingenter Praktiken im Umgang mit dem Visuellen“. So habe der Einsatz der Zentralperspektive in der Malerei und die symbolische Repräsentation zahlenmäßiger Operationen mittels eines Calculus zum Wahrnehmungsmodus der „Berechenbarkeit“ geführt. Dabei sei das im Sehsinn angelegte Täuschungspotenzial schleichend zugunsten einer künstlerischen Rationalisierung der Visualität bzw. einer wissenschaftlichen Visualisierung der Ratio dispensiert worden. Wo das „geistige Auge“ regiert, wachsen kaum noch innere Zweifel.
Aber auch diese Diktatur des Angepassten kennt ein Außen. So vermochte Freimut Duve, der die „Körpersprache“ bei den Fotos der Saddam-Söhne kritisierte, deren visuelle Syntax nicht zu überzeugen. Und Dr. Kelly musste bekanntlich mit dem Leben bezahlen, dass er „todsicheres“ Wissen gegen die Propaganda der Sichtbarkeit setzte und heimlich weitergab.
Für Dietmar Kamper, der mit einem posthumen Text das vorliegende Buch beschließt, wäre ein solche Eskalation symptomatisch für den neuen Unwillen zur Wahrheit: „Es hieß einmal gläubig: Wissen ist Macht. Heute müsste es heißen: Wissen ist Ohnmacht. Macht ist Unwissen. Ein öffentlicher Alptraum. Das Wissen leidet an seiner Unzulänglichkeit. Die Macht weiß weder, was sie tut, noch, was sie will. Deshalb wird das Nichtwissen wieder interessant.“
Besonders spannend ist für Kamper, dass das Nichtwissen gerne mit dem leiblichen Denken paktiert – mit Traum, Fantasie und Einbildungskraft. Nur den politischen Visionären, denen steht diese Virtuosität nicht zu Gebote. Zumindest so lange, wie sie das Wahrheitsspiel nicht für beendet erklären.
JAN ENGELMANN
Helmar Schramm u. a. (Hg.): „Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst“. Dahlem University Press, Berlin 2003, 446 S., 49,50 €