„Wir müssen alle Schichten anhören“

Eve-Marie Engels begrüßt es, dass die Themen des Ethikrates über die „1.000 Fragen“ öffentlich werden

taz: Auch der Nationale Ethikrat macht bei den „1.000-Fragen“ zur Bioethik der Aktion Mensch mit. Was hat ein Gremium, das doch alle „gen-ethische“ Kompetenz des Landes in sich vereint, auf einer so populären Homepage verloren?

Eve-Marie Engels: Es war die Aktion Mensch, die drei unserer Fragen auf ihre Internetseite als Top-Fragen aufgenommen hat. Aber ich begrüße die Möglichkeit eines solchen Forums ausdrücklich. Es regt die Menschen an, sich bewusst zu werden, dass Bioethik nicht nur eine Angelegenheit von Akademikern und Ethikräten ist.

Der Ethikrat befasst sich in seinen Fragen mit den gesellschaftlichen Folgen der Präimplantationsdiagnostik (PID). Was erhoffen Sie sich davon?

Wie vielschichtig die Problematik der PID ist, kann nur im Dialog möglichst differenziert beleuchtet werden. Dafür müssen wir alle Bevölkerungsschichten anhören. Wir haben das als Nationaler Ethikrat für unsere Stellungnahme zur Präimplantations- und zu Pränataldiganostik mittels öffentlicher Sachverständigenanhörungen getan.

An der auch normale Bürger teilnahmen?

Nein, wir haben Experten aus der Reproduktionsmedizin wie auch Vertreter von Behindertenverbänden und anderen Organisationen eingeladen. Sie alle bekamen zuvor Fragen vorgelegt, unter anderem zur Präimplantationsdiagnostik. Für die Verbreitung hat nun die Aktion Mensch gesorgt.

Die Debatte um die Gentechnik wird so ausführlich wie hitzig geführt. Worin sehen Sie das zentrale gesellschaftliche Problem der bioethischen Debatte?

In der Bevölkerung ist das Informationsgefälle über den Sachverhalt an sich schon sehr groß. Gerade über die medizinisch-biologischen Grundlagen aber muss Klarheit herrschen, damit die Diskussion nicht ausufert. Leider fehlt es auch in den Medien häufig an einer ausgewogenen Darstellung. Sachlichkeit hilft hier weiter als Polemik. Zudem gibt es in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß einen gewissen Spielraum an Interpretationen und Wertungen. Ein vollkommener Konsens ist bei solchen Fragen also gar nicht herstellbar. Da muss es zu Spannungen kommen.

Der Bioethik wird gern vorgeworfen, nachträglich Akzeptanz für gentechnologische Verfahren wie die PID zu beschaffen. Wäre es nicht besser, die Risiken dieser Forschung zu diskutieren, ehe man sie einführt und zulässt?

Diese Beschreibung der Bioethik kann ich so nicht akzeptieren. Seit der Geburt des ersten so genannten Retortenbabys 1978 hat sich die Bioethik weiter entwickelt. Sie ist nicht mehr retrospektiv, also auf die Bewertung bereits existierender Technologien gerichtet. Heute antizipiert die Bioethik als Disziplin mögliche Risiken und Chancen. Gerade die PID ist hier ein gutes Beispiel. Sie ist in Deutschland verboten – und wir diskutieren darüber, ob sie eingeführt werden soll.

Fakt ist doch aber auch, dass die PID als medizinisches Verfahren längst durchgeführt werden kann – im nahe gelegenen Ausland. Warum also entwickelt man ein Verfahren und streitet erst nachträglich über dessen Legitimität?

Sie sagen es ja selbst: Das Verfahren wurde nicht in Deutschland entwickelt. Im Übrigen ist die PID medizinisch auch noch gar nicht ausgereift. Zwar wird sie in anderen Ländern durchgeführt, dennoch muss jede Gesellschaft frei sein, eigene Entscheidungen bezüglich der Anwendung des Verfahrens zu treffen. In Deutschland ist die aktuelle Debatte deshalb prospektiv in dem Sinne, da es um die mögliche legale Anwendung der PID geht. Zulässig ist das Verfahren hierzulande ja noch nicht.

INTERVIEW: THOMAS GITH

Eve-Marie Engels (52) lehrt Ethik in den Biowissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Sie ist Sprecherin des Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften und Mitglied im Nationalen Ethikrat.