IM NAHEN OSTEN WIRD AUCH MIT BEGRIFFEN GEKÄMPFT
: Der „Zaun“ ist eine Mauer

Sag mir, wie du etwas nennst, und ich sage dir, welcher Partei du angehörst. Im Nahen Osten ist der Streit um Begriffe mindestens so alt wie der Judenstaat. Sei es der „48er Krieg“ oder der „Unabhängigkeitskrieg“, das „48er Gebiet“ oder „Israel“, die „befreiten“ oder „besetzten“ Gebiete, sind es „Märtyrer“, „Terroristen“ oder „Guerillas“ – immer ist sofort klar, auf welcher Seite der Redner steht. Was könnte besser die veränderte Gesinnung von US-Präsident Georg W. Bush verdeutlichen als seine gestrige „Mauer“, die heute ein „Zaun“ ist.

Zweifellos hat es Situationen gegeben, in denen es angebracht war, die Dinge nicht unbedingt beim Namen zu nennen. So waren die tausenden PLO-Kämpfer, die 1994 grün uniformiert in ihre Heimat zurückkehrten, offiziell nicht länger Soldaten, sondern eben, laut Friedensabmachungen, Polizisten. Und das, obschon nur ein Teil der Truppen tatsächlich hastigen Umschulungen unterzogen wurde, um sie in Sachen Verkehrsregeln und Umgang mit Kriminellen fit zu machen, während der Rest in verändertem Umfeld doch seine alten Strukturen beibehielt. Diese gezielte Augenwischerei war angebracht, da es der damaligen israelischen Führung darum ging, das eigene Volk langsam an die neue Realität heranzuführen.

Es gehört jedoch eine ordentliche Portion Zynismus dazu, wenn der heutige israelische Premierminister Scharon darauf setzt, dass sich die Bezeichnung „Zaun“ tatsächlich durchsetzt. Damit meint er mehrere sehr hohe Zäune, Gräben, elektronische Warnanlagen und auf langen Strecken Mauern bis zu acht Meter Höhe, die sich auf einem rund 60 Meter breiten Betonstreifen durch überwiegend palästinensisches Land ziehen. Scharons gezielte Irreführung ist nicht auf das eigene Volk zugeschnitten. Nach über 500 Terroropfern innerhalb von drei Jahren würde kaum noch einer auf einen schlichten Zaun als Antiterrormaßnahme vertrauen. Den Israelis – ob links oder rechts – kann der Schutzwall nicht hoch, nicht befestigt genug sein, deshalb sollte man ihn auch bei seinem Namen nennen. Dass die Mauer nur an Teilstücken errichtet wird, war schließlich keine politische Entscheidung, sondern lediglich eine Kostenfrage.

SUSANNE KNAUL