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Archiv-Artikel

Endstation Weltende

Pilger sind auf Wanderschaft programmiert, sie wollen irgendwann ankommen: am verheißenen Ort oder bei sich selbst. Auf dem Pilgerweg in das galicische Santiago de Compostela, das im Juli und August mit großem Aufwand das Heilige Jahr feiert

VON CHRISTEL BURGHOFF

Bewegung. Schneller, als man denkt. Frühmorgens treibt es uns auf die Füße und immer vorwärts, immer gen Westen, Kilometer für Kilometer, jeden Tag. Das Ziel liegt im äußersten Westen Nordspaniens: Santiago de Compostela. Ein Ort wie eine Legende. Und dann, am Ende, wartet das Ende der Welt auf uns. Als Christoph Columbus noch nicht geboren und die Erde noch eine Scheibe war, glaubte man wirklich, dass am felsigen Außenposten Europas im Atlantik, dem antiken „Finis terrae“, die Welt zu Ende sei.

Peregrina oder Peregrino, Pilgerin oder Pilger nennt man alle, die auf dem berühmten Camino, dem Pilgerweg nach Santiago unterwegs sind. Unstete Menschen, die jede Nacht in einem anderem Bett an einem anderen Ort verbringen. Pilger sind auf Wanderschaft programmiert, hoffen irgendwann einmal anzukommen, sei es am verheißenen Ort oder bei sich selbst. Das ist Lehrmeinung.

Allerdings bringt uns auch der Rückenwind voran. Ein eiskalter Nordost treibt uns praktisch vor sich her, er fegt über die Meseta, die Hochebene zwischen den Großstädten Burgos und Leon, und presst uns noch die kleinste Träne aus dem Augenwinkel. Die Meseta ist berüchtigt für diesen Wind. Nirgends Wälder oder Hügel, die ihn bremsen könnten. Wer stehen bleibt, der friert. Im Sommer dagegen soll es gnadenlos heiß sein, Backofenhitze. Besser man überquert die Meseta im Frühjahr wie wir oder wartet dann wieder den kühleren Herbst ab.

Wir sind vergleichsweise wenige Mesata-Überquerer. Viele Pilger auf dem Camino nach Santiago meiden sie. Sie gleichen geschmäcklerisch ihr Zeitbudget mit dem zu erwartenden kulturhistorischen und Landschaftsgewinn ab und entscheiden sich dann für ausgewählte Teilstrecken. Darin unterscheiden sich moderne Pilger von ihren mittelalterlichen Vorgängern. Sie haben die Wahl der Verkehrsmittel. Moderne Pilger gehen auch immer nur in eine Richtung. Niemand geht wie früher den Weg nach Hause zurück. Stimmt das Pilgerwesen für den Camino überhaupt noch?

In den Bars, in denen wir abends zusammentreffen, ist es warm. Und gesellig. Abends sind Pilger kommunikationsfreudig, sie rücken zusammen. Menschen, die sich nie zuvor begegneten und zumeist nie wiedersehen, lernen sich gut kennen. Nur wenige Herbergen werden in der kalten Jahreszeit beheizt. Gegen klamme Matrazen und frostige Nächte hilft Alkohol. Und der macht noch kommunikativer. Es wird viel geredet. Übers Pilgern, über kaputte Füße, über das eigene Leben. Die ganze Palette persönlicher Themen kommt zum Zug, die dafür spricht, dass der Camino für viele Wanderer ein Psychotrip ist.

Die Gern-Geher haben zur Meseta eine klare Meinung: eine wunderbare Landschaft. Sie steigt hinter Burgos sacht an wie ein Ensemble riesiger Wanderdünen, die irgendwann einmal zur Ruhe gekommen sind. Oberhalb 800 Höhenmeter geht es ohne anstrengende Aufs und Abs praktisch tagelang geradeaus. Eine weite, unverstellte Landschaft in kräftigen Erdfarben zwischen Sandgelb und Tiefrot, im Frühjahr überzieht sie sich mit dem zarten Grün der endlosen Getreidefelder. Das Panorama begrenzen allein die fernen Schneeberge der Kantabrischen Alpen, die gen Norden zum Atlantik abfallen. Meditativ, spirituell gehe es hier zu, sagen die Reiseführer. Auf der hoch gelegenen Templerburg von Castrojeriz stellt man überrascht fest, dass die Oberfläche der Meseta glatt geschliffen ist wie eine Tischplatte. Der ewige Wind hat jede Spitze weggefegt.

Seit ich gehe, geht alles besser. Die üblichen Themen, die den Kopf im Alltag vernageln, verabschieden sich. Die kleine Welt des Rucksacks, die Reduktion aufs Nötigste, wirkt wie eine längst überfällige Abspeckkur. Man weiß immer, wo es langgeht, immer den gelben Pfeilen nach, die den Weg markieren. Gehen wird wieder zur normalsten Sache der Welt. Autos? Straßen? Wie überflüssig! Wie nervig! Es wurde viel Mühe auf spezielle Wanderwege neben den Straßen verwendet. Tausende junger Pappeln und Platanen wurden gepflanzt und säumen die Route. Eines Tages wird hier eine der schönsten Alleen Europas entstanden sein. Nur für Fußgänger.

Der Camino nach Santiago ist ein erstaunliches Phänomen. Dass er je wiederentdeckt würde, war nicht abzusehen. Inzwischen sind zahllose historische Bauten restauriert: kleine romanische Kirchen, die dem Marienkult huldigen, steinerne Brücken, die zuweilen noch römischen Zeiten entstammen, historische Pilgerherbergen und Hospize, Klöster, alte Häuser. Wir durchwandern das ländliche Spanien. Später werden alle Meseta-Überquerer von den vielen Störchen schwärmen, die in der Region nisten.

Leon. Nach fast 200 Kilometern auf der Meseta sickert wieder Großstadtfeeling ins Bewusstsein. Jeder will weiter. Es sind noch 300 Kilometer bis nach Santiago. Nicht, dass die Städte ein Problem wären, doch man muss auch Vororte durchqueren mit viel Industrie und noch mehr Schwerverkehr. Die gelben Pfeile leiten in die mittelalterliche Altstadt und zur Kathedrale, dem natürlichen Ruhepol eines Pilgers.

Moderne Pilger sind auch nur Touristen. Und Touristen kommen gern ins Schwärmen. Etwa ins Schwärmen über das ländliche Spanien der Bergwelt, das nun vor uns liegt, über die weiten Ausblicke von Pässen, über die Farben der Berghänge, die sich praktisch über Nacht wandeln und nun in Violett und Gelb schimmern. Die Pilgerbewegung belebt inzwischen wieder etliche, seit Jahrzehnten aufgegebene „Geisterdörfer“. Etwa Foncebadon. Schaurig, nur von gefährlichen Hunderudeln heimgesucht – so meinen Reiseberichte aus den Achtzigern. Jetzt trinken wir hier unseren Cafe und bedauern sehr, nichts von diesem neuen Hostal des Tourismo Rural gewusst zu haben, in dem wir auch gern übernachtet hätten. Oberhalb des ehemaligen Geisterortes liegt das Cruz de Ferro, es krönt einen der hohen Bergpässe. Traditionell legen hier Pilger einen Stein ab, um sich symbolisch innerer Lasten zu entledigen.

Kein Reisebuch hält mit der rasanten Entwicklung auf dem Jakobsweg Schritt. Neue Herbergen alle paar Kilometer, geschmackvoll restaurierte Hotels und Posadas – nicht nur die Pilger kommen hier durch, spanische Urlauber haben die Region längst für sich entdeckt.

Also weiter, weiter in Richtung Ponferrada, ins Tal hinab, in dem Wein angebaut wird. Das wuchtige Zentrum der Altstadt ist wieder eine Templerburg. Ein Eckposten der alten Geschichten vom Pilgerweg, ein sehr zwiespältiges Kapitel. Es endete bereits in der Nacht des 13. Oktober 1307, als in einer beispiellosen europaweiten Razzia die Templer verhaftet und hingerichtet wurden. Hier begleitet uns auf Schritt und Tritt die europäische Historie.

Zugegeben: An manchen Tagen gibt es Sinnkrisen. Wenn die Nacht schlecht und die Herberge lausig war, wenn der Schwerlastverkehr nervt, wenn die Schmerzen kommen. Schmerzen in den Beinen, in den Füssen, kaputte Knie. Dann fragt der Kopf: Was tue ich hier? Aber auszusteigen ist noch schwerer, als weiterzugehen. Wo manche Pilger den Camino zum wiederholten Male gehen und andere sogar zu Hause, in Deutschland oder der Schweiz aufgebrochen sind, da vergisst man schnell, dass Gehen zwar normal, aber Gut-gehen-Können keine Selbstverständlichkeit ist.

Villafranca gilt als Klein-Santiago. Wegen der Ansammlung von Kirchen. Aber auch deshalb, weil hier früher für viele Pilger Endstation war. Auf dem Friedhof. Kranken und Sterbenden verlieh die Kirche bereits in Villafranca den Pilgerstatus. Heute ist dieser prächtige Ort praktisch die letzte geruhsame Idylle vor dem großen Run auf Santiago, der dann in Galicien einsetzt. Pilgerscharen wie im Tross

Es ist ein denkwürdiger Tag, als wir den letzten, anstrengenden Pass des Camino, den O Cebreiro erreichen und nach Galicien hinüberwechseln. Ein mühsamer Aufstieg. Und oben, auf dem Gipfel, sind alle schon da. Die Tagesausflügler in ihren Pkws, die Urlauber, die über die Ferientage nach Santiago wandern wollen, die Pulks der Radler in ihren futuristischen Outfits, Familien, Jugendgruppen, die sportiven Freundeskreise mit den Daypacks. Rummel herrscht auf O Cebreiro. Ohne Frage gilt das Pilgern in Galicien als Volkssport.

Noch 150 Kilometer sind es nach Santiago. Und von nun an sind Herbergen überfüllt, denn immer mehr Gruppen kommen hinzu und nehmen die Panoramawege in Richtung Meer. Jetzt treffen wir täglich auf taufrische Einsteiger in blütenweißen T-Shirts. Viele humpeln nach wenigen Kilometern. Das galicische Hochland ist für Wanderer äußerst reizvoll, wie eine Vorlage für Filmkulissen à la Auenland. Die letzten hundert Kilometer bieten eine Pilgerschaft im Schnelldurchgang. Mehr muss ein Fußpilger für seine Pilgerurkunde nicht zurücklegen. Dann ist ihm die Vergebung seiner Sünden sicher. Die Kirche offeriert Ablass, sogar gegenüber Verstorbenen, vollständig, vor allem im Heiligen Jahr. In diesem Jahr, in 2004, ist wieder ein solches Heiliges Jahr. Dies scheint die Pilgerbereitschaft enorm zu motivieren.

Applaus! Applaus für das unnachahmliche Spektakel von Santiago de Compostela! Applaus für den Einsatz der Männer in der liturgischen Tracht, die den legendären Botafumeiro, den großen, 80 Kilo schweren Weihrauchkessel durch die Kathedrale schwingen lassen. Sie hängen sich mit aller Kraft an das Seil von der Decke und schwenken den rauchenden Kübel über 20 Meter hoch hinauf. Durch die Kathedrale qualmt der Wohlgeruch, die Gemeinde wird eingenebelt. Etwas ungemein Vitales haftet diesem alten Brauch an. Er ist einzigartig auf der Welt. Eben noch Innigkeit und Gebet, und jetzt dieses Spektakel. Die lebensgroße Figur des Apostels Jakobus blickt aus ihrer vergoldeten barocken Kammer. Es ist der Höhe- und Schlusspunkt der klassischen Pilgertour. Und die modernen Pilger klatschen Beifall wie bei einer gelungenen Theatervorstellung.

Rund 500 Kilometer gegangen, fast 4 Wochen unterwegs gewesen. Das muss ich mir hier klarmachen, denn die Wanderung hat sich verdichtet zu einer Art Traumgebilde. Auf dem Felsen im Atlantik ist nur eines klar: Es geht nur bis hierhin und dann nicht mehr weiter. Am Ende der Welt gibt es ein Restaurant, einen Leuchtturm, ein Kreuz und, welch nette Geste, im Stein eingelassene eiserne Wanderschuhe. Wie stehen gelassen. Von hier aus geht es nur zurück.