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Archiv-Artikel

Vom Glück des Bolzens

Porträts der jungen Intellektuellen mit aufgeratschten Knien, abgeschalteten Vätern und bunten Murmeln: Klaus Theweleit, Michael Rutschky und Botho Strauß haben in ihre aktuellen Bücher autobiografische Szenen aus ihrer Kindheit eingebaut

Das Faulean der Nachkriegszeit stinkt wie ein kaputter Fußball

VON DIRK KNIPPHALS

Kindheit? Mal sehen. Da haben wir einen Fußball, ein Radio, ein paar Murmeln – schon mal keine schlechten Gegenstände, um Kindheiten zu inszenieren. Das Radio zeigt an: Es geht um die späten Vierziger-, die frühen Fünfzigerjahre. Heute würde man ähnliche Szenen mit einem Fernseher oder einem Gameboy ausstatten. Nur dass Kindheit auch etwas mit Mediennutzung zu tun hat, das ist gleich geblieben. Die Murmeln sind noch anachronistischer als das Radio. Aber sie können universell für das Weltabgewandte einer Kindheit stehen. Und der Fußball, das ist der Klassiker schlechthin. Dieser Artikel handelt nämlich von Jungskindheiten – beziehungsweise davon, was heutige Intellektuelle um die Sechzig daraus machen, um zu verstehen, wie ihr Leben gelaufen ist.

Fußbälle, Radios, Murmeln: Wer die aktuellen Bücher von Klaus Theweleit (Jahrgang 1942), Michael Rutschky (Jahrgang 1943) und Botho Strauß (Jahrgang 1944) liest – eine, zugegeben, im Grunde hanebüchene Mischung –, wird auf diese Requisiten stoßen. Es handelt sich um Bücher, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Klaus Theweleit schreibt über den modernen Fußball. Michael Rutschky analysiert das Verhältnis der Deutschen zu Amerika. Und Botho Strauß verhandelt, nun ja, dies und das und vor allem mal wieder die Verkommenheit der Gegenwart.

Aber auffällig ist, dass – erste Gemeinsamkeit – alle drei Autoren auf die eigene Kindheit zu sprechen kommen. Da kommen die genannten Gegenstände dann vor. Und dass – zweite Gemeinsamkeit – diese autobiografischen Szenen mit Lebensdeutungen verbunden sind. Man muss ein bisschen an diesen Szenen ruckeln, sie beim Lesen im Kopf ergänzen und sie im Kontrast sehen. Dann ist man schnell auf der Metaebene, auf der es um die Rahmenerzählungen geht, mit denen wir zu verstehen suchen, wie das Leben in der Bundesrepublik gelaufen ist.

Von den drei Autoren hat Klaus Theweleit seine Kindheit am detailliertesten ausgemalt. Dass sein aktuelles Buch „Tor zur Welt“ bislang vor allem als Fußballstudie besprochen wurde, ergibt schon Sinn; der zweite Teil enthält auch über die Euro hinaus erhellende Beobachtungen. Der erste Teil aber ist der autobiografische, er blieb bisher seltsam unbeachtet. Dabei zeichnet Theweleit hier mit sicheren Strichen ein Porträt des jungen Intellektuellen als Straßenkicker.

Wir sind in Ostenfeld, Schleswig-Holstein, kurz nach dem Krieg. Das junge Flüchtlingskind Klaus Theweleit ist bei Bauern einquartiert und tritt gegen alles, was rund ist. Ob Stofffetzen, billiger Plastikball oder aufgepustete Schweinsblase: Dieser erste Teil macht uns bekannt mit dem Glück des Bolzens. Es sind rührende Szenen, wenn der Vorschulklässler stundenlang Bälle gegen Mauern drischt. Das Besondere liegt aber darin, dass Theweleit das Bolzen als Sozialisationsinstanz ernst nimmt. Anhand eines Spiels namens „Einschuss“, bei dem jeder der beiden Spieler den Ball immer nur einmal berühren darf, bevor wieder der andere drankommt, heißt es: „Alle Kniffe des ,wie reagiere ich so, dass sich die Lage für mich günstig darstellt‘ kommt aus diesem Spiel; meinem ersten körperlichen Reality Check.“ Das Bolzen als Schule des Lebens.

Nun wäre es aber falsch, sich diese Genreszenen mit aufgeratschten Knien als Idyll vorzustellen. Denn das Kicken fand draußen statt; drinnen aber herrschte der Vater. Abgesehen vom Bolzen, zeichnet sich eine schlimme Kindheit ab. Nach dem Abendessen gab es das familiäre Ritual, die Nachrichten im Radio anzuhören. Der mittlerweile 62-Jährige erinnert sich so: „In den nächsten fünfzehn Minuten würde es kein Geschrei geben, kein Gemecker, keinen Streit, keine Ohrfeigen, keine Arbeitsaufgaben und keine sonstigen Dramen. Man konnte entspannen. Nachrichten, das war ein bisschen wie Weihnachten, und am Sonntag, mit den Fußballnachrichten hintendran, ein besonderes, ein verlängertes kleines Weihnachten.“

Es gibt also die böse Welt des Vaters, den schönen Freiraum des Fußballs und das gnädige Medium des Radios. Eine Seite später findet sich ein großartiges Bild, um diese drei Bereiche zu verkoppeln: Nach den Fußballnachrichten wurde das Radio, so lautet die Stelle, „abgeschaltet (und der Vater wieder an)“. Was für eine Klammer! Dass das Hören von Fußballnachrichten im Radio für eine Viertelstunde den Vater abschalten kann, das beschreibt Theweleit als größtes Glück. Schließlich bringt er noch den Geruch kaputter Gummibälle – eine Katastrophe! – mit dem „säuerlichen Geruch des Elternschlafzimmers“ und den „Säuren der Verbergungsgeschichte des Nazitums“ zusammen. Etwas ist faul in Deutschland, und dieses Faule stinkt wie ein kaputter Fußball! Neben dem Vaterabschalten ist das das zweite prägnante Kindheitsbild.

Was macht Theweleit also aus den Kindheitsszenen? Ein mit wenigen Requisiten skizziertes, gleichwohl komplexes Drama. Wir sind weit entfernt von Verklärungsgeschichten wie „Das Wunder von Bern“. Dies ist keine aufgehobene Kindheit, und keine Wandlung des Vaters wird sie dazu machen. Gleichzeitig aber beschreibt Klaus Theweleit das Bolzen als Möglichkeit, sich erfolgreich aus ihr herauszuarbeiten. Hilfreich sind das Interaktive des Spiels, das Körperschulende des Spielens in einem nichtmilitärischen Sinn und das Phantasieanregende der Fußballwelt im Ganzen – mit Vereinsnamen und Tabellen! Der Junge ist also nicht wehrlos. Er hat den Ball als Verbündeten gegen die Vaterwelt.

In dieser Sicht liegen zwei Pointen, eine bittere und eine lichte. Zum einen ist es allein der Fußball, der diese Kindheit im Nachkriegsdeutschland erträglich machte. Das ist die bittere Pointe. Und die lichte: Zugleich hält das Fußballspielen Material für eine Entwicklungsgeschichte bereit. Kickend erwirbt der junge Klaus T. Möglichkeiten, sich vom Vater und von Nazideutschland zu entfernen. Der Bildungsroman, der bis zum heutigen Intellektuellen Klaus Theweleit führen sollte, begann auf den Bolzplätzen von Ostenfeld.

Die Kindheit ist etwas, was unbedingt hinter einen gelassen werden musste und – zum Glück! – auch Möglichkeiten bereit hielt, das zu tun: Es ist diese Rahmenerzählung, die Klaus Theweleit mit Michael Rutschky verbindet (von dem ihm sonst viel trennt) und zu Botho Strauß Abstand halten lässt (von dem ihm auch sonst viel trennt).

Michael Rutschky kommt in seinem Buch „Wie wir Amerikaner wurden“ nur kurz, aber folgenreich auf seine Kindheit. Das Kind langweilt sich, die Mutter stellt das Radio an. Das Kind langweilt sich auch mit dem, was aus dem Radio kommt („Wenn bei Capri ...“), also stellt die Mutter auf den amerikanischen Soldatensender um. Rutschky: „Von da an, so kommt es mir vor, hörte der AFN nicht mehr auf zu spielen. Er begleitete die Schulaufgaben, er untermalte das Studium und die ersten Berufsjahre... In der vertrauten, armseligen, gedrückten Nachkriegswelt brachte sich eine andere, glücklichere zur Erscheinung.“

Gedrückte Nachkriegswelt, glückliche Erscheinung: Rutschky baut seine eigene Kindheit in einen gesellschaftlichen Bildungsroman ein – in die fortschreitende Verwestlichung der Bundesrepublik. Der Rock ‘n‘ Roll zersetzte die Restbestände des „soldatischen Mannes“, so Rutschky in einer anderen Szene mit einem Begriff, den er von Theweleit haben könnte. In dem Buch fehlen allerdings weitere Details aus der Kindheit. Denn Rutschky geht es um etwas anderes: Er setzt die Entwicklungsgeschichte als Voraussetzung des eigenen Erwachsenwerdens voraus und guckt dann von ihr aus auf die reale USA – um dabei auch die Differenzen zum imaginären Amerika des Nachkriegskindes zu registrieren. In das Motiv der geglückten Entwicklungsgeschichte aber lassen sich die Erinnerungen Klaus Theweleits durchaus eintragen.

Was für ein Kontrast dazu Botho Strauß! „Schon zu meinen Kindertagen, als noch sehr wenig Autos über die Hauptstraße fuhren, so dass ich nach dem Abendbrot, seligste Stunde, noch einmal zu den Freunden runter durfte, um auf der Fahrbahn den Kreisel zu peitschen, auf Stelzen zu gehen, mit aufgescheuertem Zeigefinger die bunten Murmeln, die hellen Klicker in die Kuhle zu schieben ...“, so heißt es in dem Buch „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“. Da haben wir also die Murmeln!

Im Ernst: Klingen nicht schon diese aus dem Zusammenhang gerissenen Nebensätze schrecklich kitschig? Und auch: unecht? So, als würde hier bloß ein Prinzip Kindheit beschworen – verklärte Unschuld – und gar nicht über die wirkliche Kindheit im Nachkriegsdeutschland geschrieben? Botho Strauß ist nur zwei jünger als Klaus Theweleit, ein Jahr jünger als Michael Rutschky, und doch scheint es um eine ganz andere Kindheit zu gehen: Die Auswirkungen des Krieges grummeln und geistern bei ihm nicht in allen Dingen.

Das geht so weit, dass Botho Strauß eine geradezu entgegengesetzte Perspektive einnehmen kann. Der Satz geht nach drei Pünktchen so weiter: „schon damals waren die Dinge entdeckt und begonnen, die jetzt unser Leben ernüchternd verändern, Computer und Doppelhelix.“ Statt einer Nachkriegszeit beschreibt Botho Strauß eine Vorverhängniszeit. Für ihn liegt die Kindheit in einer Zeit, als die Verhängnisse des Kommenden – Autoverkehr, Digitalisierung und Gentechnologie – schon angelegt, aber eben noch nicht umfassend verwirklicht waren.

Das ist eine ganz andere Rahmenerzählung als bei Theweleit und Rutschky: Statt einer Entwicklungsgeschichte beschreibt Botho Strauß eine Verfallsgeschichte. Der Erwachsene arbeitet sich bei ihm nicht glücklich aus der Kindheit heraus; er wird vertrieben aus einem Paradies. Als Diskursstrategie kennt man dieses Verfahren: Man baut einen glänzenden Punkt in der Vergangenheit auf, vor dessen Folie man dann gut über die Gegenwart mäkeln kann. Aber die Ungebrochenheit, mit der Botho Strauß die eigene Kindheit als heil zu beschreiben vermag, überrascht dann doch.

Dass während der Nachkriegszeit in Deutschland – in der Zeit, da Theweleit bolzend den Vater ausstellte und Rutschky im Radio die Zersetzung des soldatischen Mannes betrieb – so hell die Murmeln klickerten, das ist schlicht unglaubwürdig. Botho Strauß (von dem zuletzt wieder häufiger behauptet wurde: Klar habe er seine reaktionären Seiten, aber seine Beobachtungen seien doch treffend) erweist sich als gnadenloser Idylliker.

An einer anderen Stelle grübelt Botho Strauß: „Dein Beruf? Kaum mehr, als deine Kindheit gegen ein würdeloses Erwachsenenleben zu verteidigen.“ Am liebsten würde er die Murmeln behalten! Mit Theweleit und Rutschky kann man dagegen das Erwachsenwerden mit Hilfe von Fußbällen und Radios würdigen.