: Das sibirische Rätsel
War es ein abgestürzter Meteorit oder eine Gasexplosion? Noch immer ist unklar, was dazu führte, dass 1908 ein riesiges Waldgebiet in Sibirien verwüstet wurde. Erneut versuchen Forscher, Licht ins Dunkel der Tunguska-Katastrophe zu bringen
von STEFAN KAUFER
„Kam das Unheil von unten?“, fragte der Spiegel letzten Sommer, als er über eine neue Theorie zur so genannten Tunguska-Katastrophe berichtete. Denn bis heute ist unklar, was vor knapp hundert Jahren in der unzugänglichen Region Sibiriens wirklich passiert ist. Fest steht nur, dass am 30. Juni 1908 „eine Explosion mit der Gewalt einer 50-Megatonnen-Atombombe“ ein riesiges Waldgebiet vernichtete. Umstritten ist nach wie vor, was die Verwüstungen verursachte.
Natürlich dachte schon damals jeder an den Einschlag eines Himmelskörpers, der in die Erdatmosphäre geraten sein musste. Allerdings konnte zum einen bislang niemand auch nur das kleinste Bruchstück eines Meteoriten finden. Auch sind zum anderen inmitten des zerstörten Bereichs auf rätselhafte Weise manche Baumgruppen fast gänzlich verschont geblieben, und das Umknicken der anderen Bäume nach ganz verschiedenen Seiten geht nicht mit den physischen Gesetzen konform, denen ein Asteroideneinschlag folgen müsste.
Eher habe das verunstaltete Gesicht der Gegend an die „Auswirkungen einer Atombombe erinnert, wenngleich die hohe Strahlenbelastung fehlt“, meint der Geologe Wladimir Epifanow aus Nowosibirsk. Daher versucht er umzudenken und hat auf einer Konferenz seine neue Theorie präsentiert: Die Erde könnte an dem „riesigen Feuerball“ selbst schuld gewesen sein. In den Kohle und Erdöl enthaltenden Schichten, die unter dem porösen Tunguska-Gestein liegen, hat sich Epifanows Meinung nach Gas angereichert.
Zum Zeitpunkt der Katastrophe bahnte sich dieses Gemisch – wahrscheinlich während eines kleinen Erdbebens – einen Weg durch seine schwache Decke und schoss als flüssiger Strahl nach oben. In der Atmosphäre bildete sich aus den Staubteilchen, die mit ins Freie gelangt waren, eine Schicht, die sich elektrisch auflud., bis ein Funke freigesetzt wurde und den Gasstrahl von oben in Brand setzte. „Ein Feuerball raste auf die Erde zu und führte in den tieferen, mit Sauerstoff gesättigten Atmosphärenschichten zur Explosion.“
Ob Epifanows Theorie die bislang ungeklärten Fragen befriedigend beantwortet, sei dahingestellt. Schon 1951 nahm der Pole Stanisław Lem den „tungusischen Meteoriten“ zum Anlass für seinen ersten Roman und machte just aus den nicht erklärbaren Punkten Science-Fiction. Dabei gibt es erstaunliche Übereinstimmungen mit den neuen Denkanstößen aus Russland: Lem konstatiert, dass an dem Ort der Katastrophe jegliche Spuren eines Himmelskörpers fehlen und die Bäume der Taiga nicht gleichmäßig entwurzelt oder niedergebrochen wurden. Daher entwickelt ein „junger Sowjetgelehrter“ eine Theorie, „die alle Erscheinungen und Vorgänge auf unerhört kühne Art“ erklärt.
Nach dessen Berechnungen hätte das Objekt aus dem All nämlich an ganz anderer Stelle auf der Erde einschlagen müssen. Es sei denn, es konnte seine Flugbahn beeinflussen. Und war somit ein Ufo, das aus irgendeinem Grund über Sibirien ins Strudeln geriet und abstürzte. Dies erklärte das unterschiedliche Ausmaß der Verwüstungen. „Die Auspuffgase knickten den Wald bald in der Nähe, dann wieder in größerer Entfernung, warfen die Bäume in breiten Bahnen nieder oder versengten ihre Kronen und Zweige.“
Doch warum ließen sich keine noch so kleinen Trümmer des Raumschiffs finden? „Auch diese Frage beantwortete der Gelehrte. Nur ein ganz bestimmter Treibstoff könne bei seiner Explosion die starke Konstruktion eines Weltraumschiffs so restlos auflösen: Atomzerfall.“
Bei seiner ansonsten realitätsgetreuen Beschreibung der Katastrophe unterläuft Lem allerdings ein kleiner Fehler: Der Ort war nicht „menschenleer“. Karl Menges brachte 1983 in Wiesbaden ein Buch über den „Schamanismus der Ewenki-Tungusen“ heraus, das auf in den 20er-Jahren gesammeltem Material des sowjetischen Feldforschers Inokentij Suslow beruht, der mit den in der Tunguska lebenden Ewenken Gespräche geführt hatte.
Deren Erklärungsversuche klingen wie eine mit Mangas bebilderte Apokalypse, in der die moderne Atombombenfantasie durch die archaische Kraft des „Agdy“ ersetzt wird. Die Agdy-Vögel, die bei Gewittern auch den Donner verursachen, sind aus Eisen und haben feurige Augen, die wie Blitze funkeln. Diese grimmigen Wesen sind den Schamanen zugetan. Im Notfall kann ein Schamane sie daher rufen, um einem ihm verhassten Menschen Böses anzutun. Dies geschah nach dem Glauben der Ewenken in ihrer Heimat am Tag der Katastrophe.
Seit langer Zeit schon hatte es Stammesfehden gegeben, und diese brachten die einander feindlich gesinnten Schamanen schließlich dazu, ihre bösen Geister gegeneinander auszusenden. So wurden die Zelte aller Lagerstätten von einer riesigen Menge an Agdy „höher als der Wald“ in die Luft geworfen, überall herrschte ungeheures Donnern, 250 Rentiere verschwanden spurlos, Hunde kamen um, die Vorratslager wurden vernichtet, Bäume niedergeworfen, und die Erde bekam Risse. Die kämpfenden Parteien flohen aus diesem Teil der Taiga in alle Richtungen, und viele Tungusen glaubten noch Ende der 20er-Jahre, dass am Ort des Kampfes nun die Agdy leben können – aber keine Menschen. Sie weigerten sich, Suslow in das Katastrophengebiet zu begleiten.
Um einen Beitrag zur Aufklärung der Verwüstungen des nämlichen Junitags von 1908 zu liefern, muss man auch gar nicht dorthin. Auf der „Tunguska Home“-Website suchen derzeit Nikolai Wasiliew von der Russischen Akademie der Wissenschaften und Roy Gallant von der University of Southern Maine nach „Mitarbeitern aus der Ferne“. Auch wir können mithelfen, die Tunguska-Katastrophe wenigstens ein Stück weit aufzuklären. Denn wenn ein Objekt aus dem All ihr Auslöser war, muss es vor seinem Aufprallen in Nordsibirien auch anderswo auf der Erde zu sehen oder zu hören gewesen sein, mutmaßen die beiden Forscher, die der neuen Bodentheorie offenbar keinen Glauben schenken.
Die New York Times habe am 3. Juli 1908 etwa berichtet, dass in Berlin ein „eigenartiges Nachtlicht“ zu sehen gewesen sei. Der Leiter des Observatoriums in Treptow meinte damals, das Phänomen durch Veränderungen auf der Sonnenoberfläche erklären zu können.
Auch London interpretierte das Nachtleuchten falsch und fürchtete am 5. Juli, in Panik versetzt, ein neues Great Fire. Doch diesmal ohne Grund. Denn das Tunguska-Ereignis war die Ursache.
Erst heute beginnt man, unerklärliche Ereignisse aus dieser Zeit damit in Verbindung zu bringen. Und, so hoffen Wasiliew und Gallant, je mehr Mitteilungen über eigenartige Geschehnisse ihnen zur Kenntnis gebracht werden, desto genauer lässt sich bestimmen, was in Sibirien hätte passiert sein können: „Wir bitten Sie, in die Archive aller Zeitungen zu gehen, zu denen Sie Zugang bekommen und die 1908 schon gedruckt wurden. Suchen Sie dort in der Zeit von fünf Tage vor bis fünf Tage nach dem 30. Juni nach jeglicher Erwähnung außergewöhnlicher Himmelsereignisse.“
In den auf die Katastrophe „folgenden Nächten zeigten sich über den mittleren Breiten Europas silbern leuchtende Wolken von so starkem Glanz, dass der deutsche Astronom Wolf in Heidelberg das Fotografieren von Planeten unterbrechen musste“, steht auf der ersten Seite der Astronauten. Vielleicht sollten die beiden sich mal mit Stanisław Lem unterhalten.