Pax Europaea

An der Übermacht der USA ist nicht zu rütteln. Europa sollte daher auf eine wohlwollende US-Hegemonie setzen – und daneben kooperative internationale Strukturen etablieren

Es ist wichtig, Probleme in den Vordergrund zu rücken, die unilateral nicht zu lösen sind

Die USA haben mit dem Angriffskrieg gegen den Irak ohne Autorisierung durch die Vereinten Nationen einen klaren Völkerrechtsbruch begangen. Damit wurde ein (weiterer) Präzedenzfall geschaffen, und es ist davon auszugehen, dass die Vereinigten Staaten sich auch in Zukunft über UN-Mehrheiten hinwegsetzen werden. Das ist ein schwerer Rückschlag für die Entwicklung einer dauerhaften Weltfriedensordnung – oder eher: eine Desillusionierung.

Denn: Sosehr eine derartige Friedensordnung erstrebenswert ist und der europäischen Außenpolitik als Leitbild dienen sollte, sosehr die Institution der Vereinten Nationen und die Institution des Völkerrechts wertvolle, die internationale Politik „zivilisierende“ Errungenschaften sind – sie kommen an ihre Grenzen, wenn es darum geht, die inhärenten Begrenzungen der Welt der souveränen Territorialstaaten zu überwinden.

Man sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass diese Staatenwelt jahrhundertelang Kriege hervorgebracht hat, die im 20. Jahrhundert in ein Massenmorden kaum vorstellbaren Ausmaßes mündeten. Das Völkerrecht war machtlos gegenüber den gewaltträchtigen Triebkräften des weltpolitischen Geschehens. Die Etablierung einer friedlichen Weltordnung muss bei diesen Triebkräften ansetzen, nicht bei der institutionellen Form. In die Erwartung, dass eine wirksame, auf konfliktregelnde Rechtsnormen gestützte Weltfriedensordnung auf absehbare Zeit Illusion ist, fließen mehrere Überlegungen ein:

1. Das bestehende Staatengefüge entspricht vielfach nicht dem Willen der betroffenen Menschen. Diese Situation dürfte auch in Zukunft Gewalt und Gegengewalt erzeugen.

2. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die von der fortschreitenden Modernisierung (Globalisierung gehört dazu) herrührenden gesellschaftlichen Frustrationen – im Kontext extremer materieller Ungleichheit – auch in Zukunft aggressive Gegenentwürfe zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung, ihren Verteilungsstrukturen und der zugrunde liegenden Machtkonstellation hervorbringen.

3. Die beiden genannten Konfliktquellen stehen im Kontext geostrategischer Rivalitäten. Die Überlappung von Konflikten, die ihren Ursprung in der Gesellschaftswelt haben, mit zwischenstaatlichen Rivalitäten trägt dazu bei, dass die „internationale Gemeinschaft“ nur begrenzt konfliktbereinigend tätig wird. Oft genug werden die Konflikte in die Geostrategien der „Mächte“ einbezogen. Das erzeugt erweiterte Bedrohungsszenarien. Dies ist gegenwärtig etwa in den Konflikten um Palästina, Kaschmir, Taiwan, im Kaukasus oder im Irak offenkundig.

4. In dieser Gemengelage nehmen die USA eine Sonderrolle ein. Sie sind derzeit weitgehend immun gegen militärische Bedrohungen. Und sie sind in einem hohen Maße in der Lage, militärisch „proaktiv“ tätig zu werden, um internationale Entwicklungen so zu lenken, wie sie es im nationalen Interesse für erstrebenswert halten. Ihre militärische Überlegenheit macht sie auch weitgehend immun gegenüber der internationalen Gemeinschaft; die Vereinigten Staaten lassen sich nicht von den Vereinten Nationen disziplinieren. Andererseits hat sich immer wieder gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft nur in dem Maße sanktionsfähig gegenüber „internationalen Störenfrieden“ ist, wie sie sich der amerikanischen Machtmittel bedienen kann. Das liegt oft weniger an der militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten als an ihrer politischen Handlungsfähigkeit als Nationalstaat mit einer Zentralregierung.

Was sind die europäischen Optionen in einer Welt, die einerseits voller konfliktiver Energie steckt und die andererseits in hohem Maße von einem selbstbewussten Amerika gestaltet wird? Was immer die Europäer – seien sie nun außenpolitisch vereint oder nicht – anstreben, muss die Schlüsselrolle der Vereinigten Staaten ins Kalkül einbeziehen. Diese sind dabei, in strategischer Folgerichtigkeit eine neue Art von Pax Americana zu konsolidieren. Das geschieht in erheblichem Maße an den Europäern vorbei; denn die europäischen Mächte sind für die USA keine besonders problematischen Akteure, aber auch nur bedingt hilfreiche Partner.

Das US-Drohpotenzial kann im Konflikt um Kaschmir eine unheilvolle Eskalation verhindern

Der europäische Reflex neigt zum konkurrierenden Projekt – aus Selbstbehauptungsimpuls und aus dem Gedanken, das erfolgreiche europäische Friedensmodell zu globalisieren. Aber dieses Gegenmodell wird per se die Dynamik der US-Hegemonie nicht aufhalten. Man könnte als Interimsphase an unterschiedliche Einflusssphären denken: Die Amerikaner mögen fürs Erste ihre „imperiale“ Politik weiter betreiben, leider kann sie niemand daran hindern. Gleichzeitig aber arbeitet Europa an einer „großen Koalition“ der friedfertigen Staaten, die sich – vorzugsweise im Rahmen der UN – internationalen Ordnungsregeln unterwerfen und so eine Avantgarde bilden, die Anziehungskraft auf weitere Staaten ausübt. Für das hegemonial orientierte Amerika stellt dieser unoffensive „Ordnungsblock“ keine Bedrohung dar. Vielmehr würde er, in dem Maße, wie er sich ausweitet, dazu beitragen, dass die Bedrohungsszenarien, gegen die sich Amerika wappnet, in den Hintergrund treten. Pax Americana und Pax Europaea würden zusammendriften.

Aus der Warte des europäischen Sicherheitsinteresses kann jedoch das Verhalten der USA in eine gute und in eine ungute Richtung führen. Die zentrale Herausforderung für die Europäer ist es, alles zu tun, um das positive Szenario Realität werden zu lassen und das negative Szenario zu verhindern.

Im positiven Szenario hält die militärische Übermacht der Vereinigten Staaten gepaart mit der politischen Entschlossenheit, sie gegebenenfalls einzusetzen (was nicht nur unilateral sein muss), die Bedrohungen, die von staatlicher Aggressivität ausgehen, unter Kontrolle. Amerikanisches Drohpotenzial kann gegebenenfalls auch in Konflikten wie dem zwischen Indien und Pakistan eine unheilvolle Eskalation verhindern. Ob das nun ihre oberste Priorität ist oder nicht, die Vereinigten Staaten agieren de facto als militärischer Schutzschild der friedfertigen Staaten, einschließlich der europäischen.

Im negativen Szenario schürt das unilaterale Verhalten der USA nicht nur Ressentiments, sondern auch den Widerstand konfliktfähiger Staaten, die auf Dauer nicht das Fakten schaffende amerikanische Diktat akzeptieren wollen. Latente Gegnerschaft dieser Art führt zum Wettrüsten und kann in Krieg münden. Aus heutiger Sicht ließe sich eine derartige Eskalation etwa im chinesisch-amerikanischen Verhältnis vorstellen.

Ob das positive Hegemonieszenario das negative Dominanzszenario in den Hintergrund drängt, hängt von den Herausforderungen ab, denen sich Amerika und seine potenziellen Rivalen gegenübersehen. Es ist wichtig, dass Themen in den Vordergrund gestellt werden, die durch unilaterales Staatshandeln nicht zu lösen sind, sondern Kooperation erfordern. Dazu gehören die bekannten Probleme der Weltwirtschaft, von deren Bewältigung das materielle Wohlergehen aller Völker mit abhängt, der Erhalt der natürlichen Voraussetzungen von Leben und Wohlstand, aber auch die neuen Sicherheitsprobleme Terrorismus und „Staatszerfall“.

Kooperation schließt nicht aus, dem Hegemon zu widersprechen oder ihn herauszufordern

Europa sollte, wo immer möglich, für den Aufbau kooperativer Strukturen und internationaler Regelungswerke tätig werden. Es sollte, wo immer möglich und nötig, sich für die USA, China oder Russland zum unverzichtbaren Partner machen. Zunehmende Bedeutung könnte dabei der Aufgabe zukommen, von endemischer Gewalt befallene oder bedrohte Gesellschaften – nicht ihre korrupten Regime – in unterschiedlichen Regionen des Globus zu stabilisieren.

Gelänge es etwa einen globalen Wachstumskontext wie in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wiederherzustellen, würde das „zivilisierende“ Streben nach Wohlstandssteigerung im arbeitsteiligen Verbund mit dem Rest der Welt wegen der gestiegenen Erfolgsaussichten an Bedeutung gewinnen. Identitätspolitisch unterfütterte Aggressivität würde zurücktreten und mit ihr die strategieorientierenden Bedrohungsszenarien.

Entscheidend ist, dass die Staaten der EU den politischen Willen und die strategische Weitsicht aufbringen, wohl durchdachte Initiativen für kooperative Lösungen zu ergreifen und die Einbindung von USA, China und Russland als oberste außenpolitische Priorität im Auge behalten. Dies schließt nicht aus, dem Hegemon gegebenenfalls zu widersprechen oder ihn herauszufordern. ALFRED PFALLER