: Die Diva ist knülle
Von der Filmakademie Ludwigsburg kommen in der Reihe Perspektive Deutsches Kino diesmal die besten Filme, über Schulfreunde und Scheidungskinder. Daneben gibt es viel pralle Freakshow und blutarme Verkunstung, die es an Lebensweltlichkeit vermissen lassen
VON KIRSTEN RIESSELMANN
Da sitzt die 70-jährige Gitti dann doch wieder allein auf ihrem orangenen Sofa, hinter dem in einer Stielvase rote Rosen stehen. Sie zupft sich den pinken Pulli zurecht, legt neckisch die Beine hoch, greift nach ihrem Gläschen Sekt und sagt: „Die Diva ist knülle.“ Damit liefert sie zum Schluss, nach 35 Minuten dokumentarischer Begleitung ihrer Partnersuche, zum wiederholten Male etwas ausgemacht Unterhaltsames.
Gitti hat man bis dahin fast zwangsläufig lieb gewonnen, so offenherzig hat die Dame mit der Eloquenz, für die der Begriff „Berliner Schnauze“ erfunden wurde, vor der Kamera Zeitungsannoncen durchgesehen, zum Telefonhörer gegriffen, Anwärter auf ihrem Sofa zum Vorstellungsgespräch empfangen. Dass beim Sternzeichen der „Assistent“ ganz wichtig ist und Widder zwar „keine Dackelgrößen“, dafür aber „geile Böcke“ sind, hat man von der lebensfrohen Seniorin gelernt. Dabei hat man sich erst noch amüsiert und war hochachtungsvoll bezaubert – bis sich das Gefühl einschlich, dass man zumindest das mit der Hochachtung nicht mit dem Film teilte.
Ein unverstellter, gutgläubiger, sehnsüchtiger Mensch mit einem unbedarften Verhältnis zu einer Kamera ist gefundenes Fressen für ein filmisches Porträt. Auf eine Gitti in all ihrer Unverblümtheit muss man eigentlich nur draufhalten, und schon lachen die Zuschauer, um hinterher zu sagen: „Eine tolle Frau!“ Das ändert nichts daran, dass ein solcher Film– ungewollt wahrscheinlich, wir sind ja nicht beim Privatfernsehen – ins unangenehm exploitative Fach kippt.
Dieser besonderen Menschen, dieser Weirdos und Freaks, die sich recht ahnungslos in ein als Porträtfilm maskiertes Kuriositätenkabinett verfrachten lassen, haben sich gleich drei der vier dokumentarischen Arbeiten in der diesjährigen Perspektive bedient. Neben Gitti marschieren auf: Norbert Witte – Schausteller, Hochstapler, Kokainschmuggler, Gefängnisinsasse, prominente Berliner Skandalnudel – und Hans Narva – Musiker, Lebenskünstler, DDR-Dissident, achtmal wegen alkoholisierten Fahrens ohne Führerschein Festgenommener. Ob Gitti in „Gitti“, Witte in „Achterbahn“ oder Narva in „Hans im Glück“: Diese Porträtierten eint, dass sie Exzentriker sind, dass sie etwas Durchgeknalltes, unverkopft Authentisches haben, dem die Filmemacher in einer Mischung aus Faszination, Bewunderung und Wissen um die Kriterien von Publikumspreisen begegnen. Was insgesamt entsetzlich durchsichtig und den Protagonisten gegenüber ungewollt fürchterlich unfair ist.
Einzige Ausnahme bildet die Dokumentation „Wir sind schon mittendrin“ des Ludwigsburger Akademie-Absolventen Elmar Szücs. Er nutzt die Rolle als Filmemacher, um mit seinen drei besten Schulfreunden, heute alle um die 30, mal sehr persönliche, mal sehr allgemeindiagnostische Gespräche über die Befindlichkeit seiner Generation zu führen und so eine Art empirische Kulturwissenschaft mit der Kamera zu betreiben.
Aber schon bei den fiktionalen Beiträgen des diesjährigen Perspektive-Jahrgangs sieht es wieder düster aus. „Jedem das Seine“ erzählt die Geschichte zweier Roma-Brüder in Deutschland, die als Polizist und Kleinganove wieder aufeinander treffen. Wenn auch gut gespielt, in den Dialogen nicht gänzlich artifiziell und im Einsatz der filmischen Mittel instinktsicher, so ist das Thema – die so rosig aussehende Integration des Polizisten scheitert schließlich, weil sich der abgespaltene Teil seiner Identität in Form des Bruders zurückmeldet – nur in einer betulich-gestrigen Art problembewusst.
Gänzlich bar einer tragenden narrativen Idee aber sind dann „Polar“ und „Distanz“, die mit schwerblütigem, manieriertem Kunstfilmhabitus nicht über ihre Null-Aussage hinwegtäuschen können. In „Polar“ besucht ein junger Mann seinen Vater und dessen neue Kleinfamilie auf einer Schweizer Berghütte. Dort gibt es dann wenige sturzdämliche Wortwechsel und viele symbolistisch überfrachtete Bilder von Nebeln, Holzscheiten und Kühen, die durch die Luft fliegen.
„Distanz“ wiederum wartet mit einem durchweg gleich ochsenhaft geheimnisvoll dreinschauenden Ken Duken auf, der in mit fahlem Gelbfilter belegten Bildern im Kreuzberger Görlitzer Park auf Jogger schießt. Ob man sich hier im Genre des Horrorfilms versucht hat oder eine psychotische Parabel auf die Einsamkeit in der modernen Welt schaffen wollte – es sei dahingestellt.
Aber es führt dazu, dass im Spielfilm-Bereich ebenfalls Ludwigsburg am besten dasteht. Auch Martin Buskers 30-minütiger „Höllenritt“ hat zwar nicht mehr zu erzählen als die Geschichte eines Scheidungskinds, das großen Hass auf den Vater und dessen Neue hegt, tut das aber wenigstens in einem angemessenen Format, nämlich als effektreiche Kräschboingpeng-Kinderkomödie, die trotzdem keine Abstriche an dem Ernst des 12-jährigen Protagonisten Jakob zulässt: „Wenn ich einen BH anziehen will, dann geht dich das gar nichts an.“
So häufig jüngeren Filmemacherinnen und -machern das allzu geneigte Schöpfen aus der eigenen Lebensweltlichkeit vorgeworfen wurde: In diesem Jahr sind die Filme, die genau das möglichst unverhoben tun und nicht in die Fallen von Freakshow und Verkunstung tappen, die interessantesten.
Die Perspektive Deutsches Kino läuft ab Freitag im Cinemaxx und im Colosseum