Silbergraue Revoluzzer

Michail Gorbatschow sei ein Quatschkopf gewesen, sagt Ninel Boris erzählt und erzählt, das Wichtigste aber beiläufigSophia schimpft auf Bürokraten und zupft an den Socken mit der Aufschrift „USA“

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Ninel hat etwas von einer in die Jahre gekommenen Göttin der Jugend. Mit einer flüchtigen Handbewegung bringt sie ihre dichten dunkelroten Haare zur Räson. Wieder und wieder. Aufgeregt, als stünde das erste Rendezvous bevor, ihre Stimme trällert dabei. Ninel Pismennaja wohnt seit einem halben Jahr draußen vor den Toren Moskaus. Von einem Tag auf den andern entschloss sie sich, die Arbeit aufzugeben und ins Grüne zu ziehen – ins Altersheim „verdienter Veteranen“ in Peredelkino.

78 Jahre alt war sie, als sie im Institut für Gerichtsmedizin ein letztes Mal eine Leiche obduzierte. „Die Arbeit war nie langweilig“, meint sie. Und Ninel hätte auch nie aufgehört, wäre da nicht das Problem mit dem Gehen gewesen. Das langes Stehen am Seziertisch fiel ihr von Tag zu Tag schwerer. Ninel Pismennaja ist Invalidin der ersten Stufe und stützt sich auf einen Stock.

53 Jahre hat sich Ninel um Russlands forensische Medizin verdient gemacht. In den 50er-Jahren in der Kaukasusrepublik Dagestan, später in Moskau. Der Kommunistischen Partei KPdSU war die alte Dame stets ergeben, obwohl sie den Schritt von einer aktiven Komsomolzin – Mitglied im kommunistischen Jugendverband – zur Parteigenossin nie schaffte. Arbeit rund um die Uhr habe das verhindert, sagt sie. „Früher dachten wir nur an Arbeit, Geld war nicht wichtig. Gewissen, Ehre, Anständigkeit zählten was.“ Auf Michail Gorbatschow, der die Partei als Generalsekretär in die Zweitklassigkeit führte, ist sie deshalb nicht gut zu sprechen. Der sei ein Quatschkopf gewesen, sagt sie wie viele ihrer Landsleute. Auch Gegenspieler und Nachfolger Boris Jelzin gefiel ihr nicht. „Doch für Wladimir Putin gehe ich wieder zur Wahl“, lacht sie. Der Kremlchef ist aus Sicht vieler Russen eine Zwittergestalt. Einerseits verkörpert der vaterländische Exgeheimdienstmann die heroische Vergangenheit, andererseits verheißt er bessere Zeiten.

Ninels Eltern bauten schon in den 20er-Jahren auf eine lichte Zukunft. Sonst hätten sie ihre Tochter nicht Ninel genannt. Rückwärts gelesen, ist die zierliche Dame nach Revolutionsführer Lenin benannt. Die Eltern waren „Enthusiasten“ des Aufbruchs, die einen neuen Menschen schöpfen wollten. Jetzt sprudelt es aus Ninel: Der ältere Bruder hieß Meles – nach Marx, Engels, Lenin und Stalin –, und aus dem Nachzügler wurde ein junger Lenin – Julen.

Ninel fühlt sich in Peredelkino gut aufgehoben. Die Siedlung kann auf eine lange Tradition als exklusiver Wohnort verweisen. In den 30er-Jahren bauten sich emigrierte Führer des internationalen Proletariats und sowjetische Schriftsteller Sommerhäuser in den Wäldern. Markus Wolf, später Chef der DDR-Auslandsspionage, verbrachte hier seine Jugend. An der Abzweigung von der Trasse Moskau–Minsk fehlt bis heute jeder Hinweis auf den Ort.

Das Haus hat mehrere Umbenennungen hinter sich. Wladimir Iljitsch Lenin gründete das Altenheim 1924 für Gleichgesinnte, die im Zarenreich im Straflager gesessen hatten: „Politkatarschany“ – politische Häftlinge der ersten Stunde. Danach zogen „verdiente Bolschewiken“ ein, die im Postkommunismus wieder zu schlichten Veteranen wurden. Heute kann sich jeder um einen Platz in dem Altersheim bewerben. Das letzte Wort aber hat eine Kommission.

Ninels Standardapartment besteht aus Toilette, Bad, Balkon und einem 14 Quadratmeter großen Zimmer. Früher untersagte das Gleichheitsdiktat der Partei die eigene Note bei der Einrichtung, heute kann, wer will, eigene Möbel mitbringen. Ninel hat von der neuen Freiheit nur sparsam Gebrauch gemacht, Schreibtisch und eine Spiegelkommode stammen aus der alten Wohnung. Die Kosmetiksammlung auf der Kommode allerdings ist beachtlich und würde jedem Visagisten zur Ehre gereichen. Sich zurechtmachen, da sei sie in ihrem Element, sagt sie.

Schwere rote Vorhänge und ein bordeauxfarbener Wandteppich geben dem Zimmer etwas kleinbürgerlich Behagliches. Ja, hier sei es wohnlicher als bei den Zimmernachbarn, die auf spärlichem Raum die Enge einer Kommunalka – eine Gemeinschaftswohnung – nachstellten.

Während Ninel von ihrem Leben erzählt, ist auch Vera Alexandrowna anwesend. Die ehemalige Direktorin des Altenheims hat ebenfalls die Siebzig erreicht und geht am Stock wie Ninel. 35 Jahre diente sie der Partei und den alten Kämpfern, dann musste sie einem Jüngeren Platz machen. Verbitterung hat ihr Gesicht gezeichnet. Ninel Pismennaja indes ist mit allem zufrieden. „Die ärztliche Betreuung ist hervorragend, das Essen gut und reichlich.“

All diese Wohltaten gibt es für 75 Prozent der Rente. Von rund 60 Euro im Monat zahlen die Heimbewohner 45 Euro, was die Kosten nur zu einem Siebtel deckt. Den Rest zahlt der Staat, der in Russland sonst eher nimmt als gibt. Davon können andere Pensionäre nur träumen. Kein Wunder, dass da niemand meckert.

Das mag aber auch an Vera Alexandrowna liegen, deren Aufmerksamkeit noch immer nichts entgeht. Frauen wie die alte Direktorin, resolut und unnachgiebig, die Partei und Gesellschaft für eine größere Familie hielten, waren das Rückgrat des totalitären Systems. Sie greifen zum Telefon und halten den Hörer in der Hand, als hätten sie eigentlich keine Zeit zum Sprechen, sie erteilen Order, egal wo sie sind, ob im Kindergarten oder im Seniorenheim. Die Strenge im Blick vermag nur eine Geste der Unterwerfung auszulösen. Vera Alexandrowna fordert die Alten auf, „frei von der Leber weg zu erzählen“, einfach so zu tun, als sei sie nicht da …

Boris Lukianow ist fast 80 Jahre alt und mit 18 schon in die Partei aufgenommen worden. Seit sieben Jahren wohnt er mit seiner Frau in einem Zweizimmerapartment. Er hat vor allem alte Bilder mitgebracht. Ein Stillleben mit sowjetischem Champagner hängt über der abgewetzten Wohnzimmercouch aus den 60er-Jahren, als es endlich mal etwas zu kaufen gab. Boris ist ein alter Hase, mit allen bolschewistischen Wassern gewaschen, sozusagen.

In den 50er-Jahren, als er die höhere Parteischule absolvierte, erhielt er nicht nur die Weihen der Partei. Gewöhnlich studierten ausgewählte Kader damals mehr Sozialverhalten als Sozialwissenschaften. Denn keine Gesellschaft kannte so viele fein abgestufte Hierarchien wie die klassenlose. Boris erzählt und erzählt, die wichtigen Informationen kommen ganz beiläufig. Etwa dass sein ältester Sohn in Afghanistan gefallen ist. Sein Kopf nimmt beim Erzählen eine typische Haltung ein: seitlich nach rechts angewinkelt. So entgeht ihm nicht, wie die Alexandrowna links hinter ihm reagiert.

Lukianow arbeitete als Beamter in einem Ministerium, das in der UdSSR die Berufsqualifikation koordinierte. Heute bezieht der Oberstleutnant a. D. 6.000 Rubel (180 Euro) Rente im Monat, dreimal so viel wie Ninel. Auch er kann sich nicht beklagen. Vera Alexandrowna sitzt seit einigen Minuten auf dem Balkon. Unten steht Lenin, ein fesches Denkmal des Gründervaters, Hände lässig in den Hosentaschen, den Mantelkragen nonchalant aufgeschlagen, das verleiht ihm Dynamik und Jugendlichkeit. Die vom Sockel heruntergefallenen Platten sind am Fuß des Denkmals ordentlich angelehnt. Lenin muss warten, bis die Schwarzarbeiter aus Moldawien, Aserbaidschan und der Ukraine mit der Renovierung des Haupthauses fertig sind. Bis es so weit ist, stellen die Heimbewohner täglich eine Vase mit frischen Veilchen vor den silbergrauen Revoluzzer.

Heute würde Lukianow in der Partei vieles anders machen. Er trauert der alten Zeit nicht nach. Doch das erzählt er erst, als Vera Alexandrowna nicht mehr dabei ist. Aus dem Off, vom Balkon hatte sich die Stimme der alten Direktorin vorhin plötzlich gemeldet und ihn korrigiert. Wo sie auch steht, hört sie mit. Schließlich wusste die Partei alles und hatte immer Recht.

Lukianow hat eine Menge erlebt, vor allem im Weltkrieg, als Kameraden zu hunderten verheizt wurden. „Wir haben Siege errungen, aber niemand fragte nach dem Preis.“ Das sei die Quintessenz des Kommunismus gewesen. In Peredelkino versorgen 150 Angestellte 160 Rentner, der älteste ist 103 und lebt seit 35 Jahren im Heim. So viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, meint Lukianow, könnte fast ein Versuch der Wiedergutmachung sein. Irgendwie versöhnt ihn das mit der Vergangenheit.

Peredelkino ist die erste Etappe auf dem Weg ins Paradies. Das scheint auch der Patriarch der orthodoxen Kirche, Alexej II., so zu sehen, der nebenan seine Sommerresidenz hat. Es ist eine Trutzburg, in der es von Kameras und Sicherheitsbeamten nur so wimmelt. Meterhohe Mauern schützen vor neugierigen Blicken. Der Kirchenfürst hat an nichts gespart. Die Mentalität von Partei- und Kirchenfürsten, meint die 86-jährige Sophia Goichmanna beim Blick hinüber von ihrem Balkon, sei ähnlich. Sie weiß, wovon sie spricht. Vierzig Jahre hat sie bei Gosplan, der sowjetischen Planungsbehörde, verbracht. Sie schimpft auf die Bürokraten, die den Baikalsee verseucht und Flüsse umgelenkt hätten. „Und wohl wissend, was sie damit anrichten würden“, sagt sie und zupft an den weißen Socken mit der Aufschrift „USA“.

Vor Goichmannas Zimmer stehen zufällig wieder Ninel und die Alexandrowna im Gang. Ninel hat sich zu der ehemaligen Direktorin gebeugt: „Ich habe aber nicht alles erzählt. Meinen Sohn habe ich lieber ganz ausgelassen.“