: Anmutiger Formationsflug
Ein neues Reglement beim Mannschaftszeitfahren der Tour de France soll allzu große Zeitrückstände verhindern. Bei den Rennfahrern im Peloton ist diese Neuerung äußerst umstritten
AUS WASQUEHAL SEBASTIAN MOLL
Walter Godefroot ist ein Elder Statesman des Radsports. Der 62-jährige Direktor des Teams T-Mobile gehört immerhin seit 40 Jahren zum Profi-Zirkus. So einer nimmt es sich auch schon einmal heraus, in bedeutungsschwangeren Rätseln zu sprechen. Auf die Frage, was er denn von der neuen Regel im Mannschaftszeitfahren bei der Tour hält, die von vornherein die Abstände zwischen den Mannschaften begrenzt, antwortete er vieldeutig: „Es kommt nicht darauf an, wer das Mannschaftszeitfahren gewinnt, sondern darauf, wer in Paris vorne ist.“
Das könnte auch in etwa der Gedanke der Tour-de-France-Organisatoren gewesen sein, als sie die Regel einführten. Zwar wurde das Mannschaftszeitfahren im Jahr 2000 wieder mit in das Programm der Tour genommen, um zu unterstreichen, dass Radsport Mannschaftssport ist. Doch eine allzu große Rolle, hat man sich nun gedacht, darf die Mannschaft auch wieder nicht spielen – starke Fahrer mit schwachen Mannschaften sollen in dieser Disziplin nicht zu viele Federn lassen und ihre Chance auf den Gesamtsieg einbüßen. Schließlich soll es eben immer noch vor allem darum gehen, wer als Erster in Paris ist.
Nach der neuen Regel beträgt der Abstand zwischen der ersten und der letzten Mannschaft maximal drei Minuten, der Abstand zwischen der ersten und der zweiten Mannschaft maximal zwanzig Sekunden. Zwischen den weiteren Mannschaften – der zweiten und der dritten, der dritten und der vierten und so weiter – ist der Abstand auf 10 Sekunden begrenzt. So bleibt das Spektakel Mannschaftszeitfahren den Zuschauern erhalten – die Anmut des Formationsfluges, wenn Fahrer wie ein Vogelschwarm über Felder und Hügel ziehen – ohne dass es die Gesamtwertung durcheinander bringt.
Das findet nicht jeder im Peloton gut. Walter Godefroot ist sich über die Stärke seiner Mannschaft in dieser Disziplin offenbar nicht ganz sicher – auch wenn er hofft, dass die zwei Zeitfahrspezialisten seines Teams, Jan Ullrich und Santiago Botero, ein gutes Resultat gewährleisten werden. Aber das T-Mobile-Team hat sich in der jetzigen Besetzung noch nie bewährt, und so bleibt Godefroot in seiner Beurteilung des Reglements lieber vage.
Lance Armstrong, der mit seiner Mannschaft das Zeitfahren im vergangenen Jahr gewann, hat hingegen eine ganz klare Meinung: „Ich bin mir nicht sicher, dass ich den Sinn dieser Regel verstehe. Ich glaube nicht, dass sie einen besonders spannenden Wettbewerb garantiert.“ Die weniger aussichtsreichen Mannschaften, befürchtet Armstrong, werden einfach locker fahren und sich schonen, weil sie ohnehin nicht viel Zeit verlieren können. Das sei nicht schön anzusehen, so Armstrong, und auch nicht fair, weil das Mannschaftszeitfahren sehr aufreibend ist und Kräfte für die nächsten Tage kostet.
Jens Voigt, dessen Mannschaft CSC-Tiscali wie das Armstrong-Team US Postal zu den Favoriten beim Mannschaftszeitfahren gehört, ist sich mit Armstrong einig. Der begabte Zeitfahrer und weniger begabte Bergfahrer Voigt meint: „Ich verstehe nicht, was das soll. Beim Bergzeitfahren in Alpe d’Huez hat ja auch keiner Mitleid mit mir, wenn ich da sechs Minuten verliere.“
Hans-Michael Holczer, Chef des Teams Gerolsteiner und einer der diplomatisch und rhetorisch gewandteren Figuren im Profi-Radsport, kann hingegen die Argumentation der Tour-Direktion zumindest nachvollziehen. „Es geht doch darum“, meint Holczer, „einem Konzentrationsprozess im Profi-Sport entgegenzuwirken.“ Die Regel ist laut Holczer eine Art Anti-Trust-Gesetz: Es soll die Tendenz abgeschwächt werden, aus den Profi-Teams Ensembles von Superstars zu machen, so wie etwa T-Mobile und US Postal das praktizieren. Im Mannschaftszeitfahren macht es sich bezahlt, ein Aufgebot von Fahrern auf die Strecke zu schicken, von denen die Hälfte selbst die Tour gewinnen könnte. Würde dieser Trend dadurch belohnt, dass man im Mannschaftszeitfahren eine Tour entscheiden kann, würde dies den reichen Mannschaften mit den großen Budgets zugute kommen. Der Tour-Sieg würde noch mehr als ohnehin schon eine Frage des Geldes.
Deshalb findet Holczer, dessen Equipe einen eher mittleren Etat zur Verfügung hat, die Regel vernünftig. Er glaubt auch nicht, dass sie der Attraktivität des Mannschaftszeitfahrens abträglich ist: „Bis auf ausgesprochene Sprinter-Mannschaften, wie die von Mario Cipollini, werden alle Vollgas geben.“ Das ist zu hoffen, denn es gibt bei der Tour kaum einen schöneren Anblick als eine perfekt harmonierende Mannschaft, die mit 60 Sachen übers Land zischt, als gehörten alle neun Mann zu einem einzigen Organismus. Chancengleichheit hin oder her – es wäre schade um diese Disziplin, wenn die Hälfte der Mannschaften von TGVs zu Bummelzügen verkämen.