: Zum Date mit der geliehenen Tante
Mittelstürmer, 8 Jahre, sucht fußballverrückten Onkel: Die Mentorenagentur „Biffy“ vermittelt Kindern erwachsene Paten – zum Beispiel wenn eine Familie zu wenig Zeit hat oder Verwandte fehlen. Die Stadt-Kids lernen, Karotten zu ernten, und genießen es, nicht Sohn oder Tochter sein zu müssen
von BERND SCHLÜTER
Eigentlich pflegen die Hartmanns* ein ganz normales Familienleben: Die Mutter lebt mit ihren drei Kindern im Südosten Berlins. An den Wochenenden werden sie flügge: Die 11-jährige Irina fährt zu ihrer Patin Renate hinaus nach Marwitz. Zwillingsschwester Ilka besucht Lieblingstante Barbara im Stadtteil Neukölln. Und ihr großer Bruder Maik ist mit Pate Mark mal hier, mal dort unterwegs.
Eine intakte Verwandtschaft, könnte man meinen. Doch Renate, Barbara und Mark sind keine Blutsverwandten, sondern vermittelt von der Mentorenagentur „Big Friends for Youngsters“ (Biffy). Dieses in fünf weiteren deutschen Städten ansässige Projekt bringt große und kleine Leute zusammen, damit sie Freundschaften schließen können. So finden Kinder und Jugendliche Erwachsene, die zuhören, diskutieren und spielen. Junge finden Ältere, die sie als eigene Persönlichkeit ernst nehmen – außerhalb der Familienrolle als Töchterchen oder Sohnemann.
Es ergeben sich Möglichkeiten, die sonst nicht vorhanden sind. Bei der 48-jährigen Renate auf dem Land zum Beispiel kann Irina Karotten ernten: „Bei mir in der Gegend steht ja ein Haus am anderen“, sagt das Stadtkind mit Blick auf weite grüne Wiesen. Später, als das nächste Treffen besprochen wird, darf Irina sich das Mittagessen aussuchen. Wahrscheinlich wird es Nudelauflauf geben, die Crêpes zum Nachtisch sind sicher.
Nicht, dass sie und ihre Geschwister eine Rabenmutter hätten. Im Gegenteil. Frau Hartmann kümmert sich um ihre Kinder. So viel, wie es das Geldverdienen zulässt, doch allen Bedürfnissen kann sie nicht gerecht werden. Deshalb vor eineinhalb Jahren der Anruf bei der Agentur. Ein schwieriger Schritt, der allen gut tat.
Natürlich wollten sie gerne dem 13-jährigen Maik beistehen, wenn der samstags mit seiner Eishockey-Mannschaft auf Torejagd geht. Und natürlich war das für die Frauen auch langweilig. Jetzt steht Pate Mark an der Bande und hat seine Freude. Auch am Besuch eines Hertha-Spiels konnte er Gefallen finden. Und das, obwohl der 35-jährige Programmierer eher ein Sportmuffel ist. „Aber es belebt, sich mitreißen zu lassen zu etwas, was man selbst nicht macht“, sagt er.
Die meisten der Erwachsenen, die Mentor werden wollen, haben keine oder schon erwachsene Kinder, oder sie sind außer Haus. Sie wollen wie Renate einfach mal wieder zum Basteln kommen. „Und man kriegt intensiv mit, was die Jugend heute so beschäftigt“, sagt die Kulturschaffende. PR-Expertin Ulrika Brandt, eine andere Patin, will den Kindern beim Erwachsenwerden eine Art Geleitschutz bieten: „Heute ist es doch so wichtig, Selbstvertrauen zu haben.“ Irene, ihr Schützling, ist hochzufrieden: „Am Anfang wollte ich ja nur Französisch lernen, aber dann haben wir bald über Gott und die Welt geredet“, erzählt die 14-Jährige, die mit ihrem Vater in Hellersdorf lebt.
Die Rolle des erwachsenen Begleiters können viele Familien schlicht nicht mehr besetzen: „Mit der Entwicklung zur Ein-Kind-Familie stirbt allmählich die Verwandtschaft aus“, sagt Soziologe Martin Doehlemann aus Münster, „Tanten und Onkel stehen dann als Weltvermittler kaum noch zur Verfügung.“ Schon heute sind sie oft abwesend, weil sie weit verstreut wohnen. So wird es langsam, aber sicher zum Normalfall, dass Kinder ohne erwachsene Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie aufwachsen. Gerade solche Kinder, deren Eltern viel arbeiten oder anderweitig belastet sind. Damit die jungen Leute da ihren Weg finden, braucht es Begleiter. „Eigentlich ist das nichts Neues“, meint Volker Amrhein, Leiter des Berliner Projektbüros „Dialog der Generationen“, welches Informationen zu ebendiesem sammelt. „Immer schon legten alle Kulturen Wert auf solche Formen der Begleitung.“ Hier zu Lande geriet das vorübergehend in Vergessenheit, obwohl der Bedarf an Orientierung und Erfahrungsaustausch in einer unübersichtlichen Gesellschaft groß ist.
Mentorenprogramme versuchen zunehmend auch hier – wie schon seit langem in den USA – dem Mangel in diversen Bereichen beizukommen. An Renate Hoheisel, die das Biffy-Projekt in Prenzlauer Berg koordiniert, wenden sich viele allein erziehende Mütter mit Jungen. Auch ein großer Freund, schon, weil er Fußball spielt, kann ein ersehntes männliches Vorbild sein.
Schwierigkeiten gibt es so wie bei anderen Beziehungen auch: Zu hohe Erwartungen, Kommunikationsprobleme, Eifersüchteleien. Zuweilen wünschen sich Kinder den Paten als Ersatzpapa – weshalb Eltern manchmal den großen Einfluss der Paten fürchten. Die wiederum missverstehen ihre Rolle, sobald sie als ehrgeizige Erzieher auftreten. „All das versuchen wir zu klären, indem wir die Mentoren darauf vorbereiten und im Verlauf der Beziehung an kritischen Stellen zwischen Eltern, Kindern und Paten vermitteln“, erklärt Hoheisel ihre Aufgabe als betreuende Kupplerin. Die Mittel dafür sind knapp, das Projekt ist noch jung. Die Zahl der interessierten Schützlinge wächst, insbesondere die der 10- bis 12-Jährigen, potenzielle Paten halten sich aber noch zurück. „Manche scheuen die Verbindlichkeit“, sagt Hoheisel. Und die Pädophilen? „Bei einem Verdacht fragen wir direkt und intensiv nach. Wenn ich trotz aller Beteuerungen immer noch ein ungutes Gefühl habe, weise ich den Betreffenden ab.“
Ist vorab alles besprochen, kommt es zum Kennenlerntreffen, wo Junge und Alte einander auswählen sollen. Und dann das erste Date zu zweit. Ein Abenteuer. Irina strahlt. Ihr steht die Vorfreude über den nächsten Besuch bei ihrer Patin schon ins Gesicht geschrieben. Wer sie so erlebt, erahnt den Sinn eines afrikanischen Sprichwortes: „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ Das lässt sich zwar in der Stadt nur schwer wiederbeleben – aber stellenweise im Kleinen nachahmen.
*Namen geändert
Informationen über die Agentur „Biffy“ gibt es beim Projektebüro „Dialog der Generationen“ unter Telefon 44 38 34 75 oder unter www.biffy.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen