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Archiv-Artikel

Rent a Niere

Pilotprojekt Berlin: Mit städtischer Organleihe wird die Sozialhilfe refinanziert

Wer gesund ist, kann durch eine Organleihe zur Deckung des Finanzhaushalts beitragen

Die Schwestern am Empfang sind entnervt. In ein, zwei Minuten erklären sie, wie die Meldekarte auszufüllen ist – dann ist der Nächste dran. Früher haben sie das selbst gemacht, doch wenn die Warteschlange bis zur Bushaltestelle reicht, ist dafür keine Zeit. Eine Türkin mit Kopftuch und langem Mantel blickt nicht durch, versucht zu erklären, dass sie für ihren Ehemann da ist. „Da muss Ihr Mann schon selber kommen, Frau Ünal“, erklärt eine Schwester. „Wir müssen ihn untersuchen und ihm Blut abnehmen!“ Mit einer Handbewegung in der Armbeuge illustriert die Schwester, was sie meint. „Und sorgen Sie dafür, dass er wirklich kommt, er ist dazu verpflichtet. Sonst müssen wir ihn polizeilich vorführen lassen.“

Seit Tausende von arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern den blauen Brief mit der Aufforderung zur „Voruntersuchung zur Organleihe der Stadt Berlin“ erhalten haben, sind die Krankenhäuser hoffnungslos überfüllt. Hier im Klinikum Steglitz ist die Situation noch erträglich, aber im Kreuzberger Urban-Krankenhaus oder im Klinikum Neukölln ist die Lage wegen der hohen Zahl von Betroffenen äußerst prekär. Und das ist erst der Anfang, schließlich ist Berlin die erste Stadt, die mit der gesetzlichen Organleihe die Kosten für die Sozialhilfe gegenfinanziert.

Gefragt sind vor allem Nieren arbeitsfähiger Langzeitarbeitsloser – schließlich warten in Deutschland mehr als 12.500 Patienten auf eine Spenderniere, wie die Ärztezeitung berichtet. Und wer arbeitsfähig ist, der ist auch gesund und kann durch eine Organleihe zur Deckung des Finanzhaushalts seiner verschuldeten Gemeinde beitragen. Dennoch haben längst nicht alle den blauen Brief erhalten: „Das Bezirksamt lädt immer nur so viele Patienten vor, wie wir verkraften können“, sagt Schwester Erika vom Klinikum Steglitz. „Wenn sie alle auf einmal herbitten würden, gäbe es einen Riesenaufstand. Die halten doch alle zusammen. Nee, nee, ist schon besser so.“

Die Gewinn bringende Maßnahme sollte ohnehin weitgehend im Verborgenen durchgeführt werden. Keine Pressekonferenz, keine Ticker – die sonst übliche Regierungsinszenierung entfiel diesmal völlig. Es wäre auch nichts durchgesickert, hätte nicht die Süddeutsche Zeitung einen Fehler begannen und am 2. August einen Artikel veröffentlicht, in dem es um die Verschärfung der Hartz-Gesetze und am Rande auch um die anstehende Organleihe ging. Grund genug für die Nachrichtenagentur Reuters, die Meldung in die Welt zu blasen. Zwar auch nur ganz am Rande – aber zu spät. Damit war es raus: Sozialhilfeempfänger müssen bluten!

Plötzlich signalisiert die Schwester, dass „der Doktor Semmelroth“ nun gesprächsbereit sei. Es geht in eine Art Behandlungsraum mit etwa zehn Wartekabinen. Durch die Sperrholzwand dringen Wortfetzen. Offenbar ist ein Patient verunsichert. Der Arzt redet auf ihn ein, macht ihm klar, dass es sich nur um eine Organleihe handelt, nicht um eine Spende, in die er einwilligen müsse – und dass er seine Niere wiederbekommen könne, wenn der Empfänger stirbt. Oder die Niere eines Unfallopfers, falls sich später herausstellt, dass er die Entnahme nicht verträgt. Dann ist es endlich so weit, der Doktor lässt bitten: „Ist doch klar, dass die Angst haben. Der Beschluss kam ja auch ein bisschen plötzlich. Auch wir konnten uns nicht richtig vorbereiten.“

Dr. Ulf Semmelroth kramt auf seinem Schreibtisch und findet ein Organigramm: „Hier, sehen Sie, wir und die vom Klinikum Benjamin Franklin operieren in drei Schichten, und die Medizinlogistik an der Charité koordiniert die Aktion für die ganze Stadt. Die haben Funk und alles, die stimmen Blutgruppe, Antikörper und Gewebe exakt aufeinander ab. Da sind dann auch Aktionen wie letzte Woche in den USA möglich, wo es eine Nierentauschaktion mit sechs Operationen gleichzeitig gab. Transplantationen von Lebendspenden sind immer noch am erfolgreichsten!“ Die neue Organleihe sei jedoch keineswegs auf Nieren beschränkt, berichtet Semmelroth. Der Mensch habe zwar zum Beispiel nur eine Leber – aber die kann man splitten. Bislang barg das für Lebendspender hohe Risiken, jedoch sei Splitting durch ein neues Verfahren ein wenig sicherer geworden.

Wer durch den Test fällt und keine Organe verleihen darf, kann sich auf Antrag Haut entnehmen lassen – etwa für die tapferen Feuerwehrleute, die sich bei Großbränden in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern Verbrennungen dritten Grades zugezogen haben. Auch die Vergabe von Bonuspunkten an Organverleiher motiviert, meint Semmelroth. „Wer viele Punkte hat, kassiert länger Sozialhilfe. Und im Winter Schnee schippen und im Sommer den Park fegen muss er auch nicht mehr. So was ist doch entwürdigend.“ DIETER GRÖNLING