Revolution auf DDR-Papier

Kunst kommt von Geschichte: Der in Peru geborene Zeichner Fernando Bryce rekonstruiert politische Ereignisse nach Sichtung der historischen Dokumente. Dabei ist er Chronist und Kommentator – auch mit seiner Serie über den Spanischen Bürgerkrieg, die derzeit in Madrid ausgestellt wird

Bryce’ Werk ist parteiisch, bleibt dabei aber nüchtern und distanziert

von ANDREAS FANIZADEH

Er ist auf der diesjährigen Biennale in Venedig vertreten, hat Walter Benjamin eine Porträtserie gewidmet und einen Bilderzyklus zur Gegenwartsgeschichte Perus gezeichnet. Seine Werke sind mittlerweile begehrt, obwohl oder gerade weil sie auf spezielle Art „inhaltistisch“ sind. Vor einigen Jahren ist der Maler Fernando Bryce dazu übergegangen, nach historischen Vorlagen zu zeichnen und deren vorgeblichem Realismus eine weitere Ebene hinzuzufügen. So ist zunächst sein „Atlas Peru“ entstanden und jetzt die in Madrid erstmals ausgestellte Serie zum Spanischen Bürgerkrieg. Dabei favorisiert Bryce kleinformatige Kunstwerke, die zusammengefügt analytische Mosaike ergeben. Über die Stationen Lima, Paris und Berlin entwickelte der Künstler seinen spezifischen Stil, eine an die Leichtigkeit Pettibons erinnernde Zeichentechnik mit gesellschaftlich stark dekonstruktiven Zügen.

In Berlin hatte Bryce 1995 eine Abfolge von Spekulatiusplätzchen gemalt. Für ihn waren die Kekse auch Spiegel einer bäuerlich-mittelalterlichen Kultur in Deutschland. Bryce fertigte etwa zwanzig Bilder an und stellte sie aus. Erstaunt musste er aber feststellen, dass man die ockerfarbenen Spekulatiusbilder in Berlin der Maltradition des untergegangenen Inkareichs zuordnen wollte. Ein Missverständnis, dass den 1965 in Peru geborenen, französisch ausgebildeten und in Deutschland lebenden Künstler darin bestärkte, auf dem richtigen Weg zu sein. Zu dieser Zeit verdiente sich Bryce seinen Lebensunterhalt durch Putzen im SO 36, einem alternativen Kreuzberger Konzertsaal. Nach dem Putzen war er allerdings zu müde, um im Anschluss noch große Vierfarbformate auf Leinwand zu malen.

Zudem war Bryce schon vorher mit der Malerei unzufrieden gewesen. Die körperliche Erschöpfung beschleunigte den Entscheidungsprozess. Er stieg auf kleinere Formate und Zeichnungen um und begann fortan, mit Pinsel und Tusche auf Papier zu produzieren. 1997 stieß er in der Bibliothek des Iberoamerikanischen Instituts in Berlin auf eine alte Broschüre aus den Dreißigerjahren. „The Progress of Peru“ sollte einmal Touristen ins Land locken und dem Ausland zeigen, wie gut es dem Land unter der damaligen Diktatur ging. Propaganda und Fiktion. Bryce ging daran, dem historischen Dokument eine zweite Ebene zu geben, es zeichnerisch in Gegenwartskunst zu übersetzen. Er reproduzierte das gesamte Dokument. Der Effekt der schnell hingeworfenen Kopien war erstaunlich. Die Diskrepanz zwischen dem Original und seiner Abbildung vermittelte einen sehr präzisen, distanzierten und ironischen Kommentar zum historischen Kontext.

Ende der Neunzigerjahre kehrte Bryce für eine Weile nach Lima zurück. Die peruanische Gesellschaft war in Bewegung geraten. Das Regime Alberto Fujimoris neigte sich dem Ende zu. Letztlich stürzte der Diktator über einen Medienskandal, die Affäre mit den so genannten Vladi-Videos: Fujimoris Mann fürs Grobe, Geheimdienstchef Vladimir Montesinos, hatte heimlich filmen lassen, wie das Regime Entscheidungsträger schmierte und schmutzigen Geschäften nachging. Als Fujimori den Geheimdienstchef fallen ließ, rächte sich dieser und spielte den Medien seine kompromittierenden Videos zu. Inmitten dieser Atmosphäre zeichnete Bryce seinen „Atlas Peru“, ein Bildpuzzle, indem er die überlieferte Geschichte darstellt und bisweilen spöttisch kommentiert. Die 544 Bilder, schwarz-weiß, mit Tusche auf A4-DDR-Papier gepinselt, wurden 2001 in Lima ausgestellt. Zuletzt waren sie auch auf der Manifesta in Frankfurt am Main zu sehen.

Dass Bryce sich keineswegs auf Nationalität oder südamerikanischen Hintergrund festlegen lässt, hat sich kürzlich in Luzern gezeigt, als er dort eine Serie zum Frankfurter Philosophen Walter Benjamin präsentierte. Angefragt für die jetzige Ausstellung in der Madrider Marlborough-Galerie, begann er Materialien zum Spanischen Bürgerkrieg zu sichten und zu zeichnen. So entstand schließlich eine Serie aus 138 Bildern. Diese Arbeit, als historische Recherche eines Peruaners im hochkastilischen Madrid ausgestellt, ist für sich genommen schon eine kleine Provokation. Das Verhältnis der Spanier zu den Kolonisierten war immer schwierig; und nicht minder schwierig ist das Verhältnis des heutigen Spaniens zu seiner Diktaturgeschichte. Spaniens Starrichter Balthasar Garzón mag südamerikanische Foltergeneräle jagen, doch mit einer juristischen Aufarbeitung des Bürgerkriegs und der Verbrechen der Franco-Diktatur tat und tut auch er sich weitaus schwerer.

Etwas Entwicklungshilfe in umgekehrte Richtung scheint da durchaus angebracht. Vergessen ist doch oft, dass die Erhebung General Francos gegen die Republik 1936 den Zweiten Weltkrieg einleitete, drei Jahre vor Deutschlands Überfall auf Polen. Der Militäraufstand richtete sich weniger gegen die bürgerliche Demokratie, sondern war als Abwehr einer revolutionären Situation in Spanien gedacht. Die Furcht vor einem anarcho-sozialistischen Spanien teilten auch die Demokratien Englands und Frankreichs. Ohne deren Schutz wurde die Republik von den Bomben der deutschen, italienischen und spanischen Faschisten zertrümmert.

Fast drei Jahre stemmte sich so die republikanische Bevölkerung gegen die überwältigende Waffenüberlegenheit der aufständischen Franco-Truppen. Aus Sorge vor revolutionären Tendenzen wurden die Milizen der Linkskommunisten und Anarchisten durch die konservativere Führung der Republik nicht ausreichend bewaffnet. Der Schriftsteller George Orwell kämpfte in Spanien und hat in „Mein Katalonien“ die Tragödie von Revolution und Konterrevolution beschrieben. An der Front kämpften revolutionäre Arbeitermilizen, in der Etappe wurden sie von stalinistischen Kommunisten und bürgerlichen Republikanern an die Wand gestellt.

Orwell glaubte, dass die Fortsetzung der sozialen Revolution die einzige Chance gewesen wäre, um die Bevölkerung ausreichend gegen den Faschismus zu mobilisieren. Wie viele andere Internationalisten konnte er nicht verstehen, dass die spanische Republik, aus Rücksicht auf die Kolonialmächte England und Frankreich, Spanisch-Marokko nicht in die Unabhängigkeit entließ. Franco hätte damit auf einen Schlag Truppen und Aufmarschgebiet verloren.

Das Blatt mit dem abgezeichneten Wortlaut des Hitler-Stalin-Pakts ist das zentrale Gegenmotiv zu den vielen von Bryce zitierten Szenen aus der historischen Utopie des linken Internationalismus. Gegen den Abgrund an Verrat durch Stalins KP stehen andere bildlich zitierte Dokumente wie der Mitgliedsausweis von José Daga-Verero – Nationalität: Peruaner – für die Internationalen Brigaden; oder das Erinnerungsbild an Oliver Law, den schwarzen US-Amerikaner, der am 10. Juli 1937 als Kommandeur der Lincoln-Brigade in der Schlacht bei Brunete fiel. Porträts des Anarchisten Buenaventura Durruti oder des von den Stalinisten ermordeten Linkskommunisten Andrés Nin. Aufgestapelte Milizionäre mit erhobenen Fäusten und Vorderladern sowie Kämpferinnen des Lenin-Bataillons, der Centuria Thälmann, des Quinto Regimento und Enrique Lister, Flüchtlinge, Namenlose, kalte Landschaften, zerstörte Städte, Massaker.

Bryce’ Werk ist parteiisch. Es bleibt dabei aber auch distanziert, nüchtern und folgt dem Auge des analytischen Chronisten. Vieles von dem, was er zeichnet, entstammt der Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung der beteiligten Parteien. „Gut gelaunte Bomberpiloten“ ließ Mussolinis Pressestab unter das Foto von vier lächelnden italienischen Soldaten setzen. Der monströse Wille zur Vernichtung und die kalte Technikbegeisterung kommen in der Serie abgezeichneter italienischer Propaganda deutlich zum Ausdruck. Die verklärenden Aufnahmen der Zerstörung sollten von poetischer und erhabener Schönheit sein; ihr Zynismus ist in der anmutigen Wiedergabe mit Tusche auf Papier kaum zu übersehen. Eine Fiat B.R.-20 der Italiener schwebt stolz durch die Nacht, dazu abstrakte Funken am Boden explodierender Bomben.

17 Zeichnungen hat der Künstler allein der internationalen Ausgabe der Zeitung The Spanish Revolution gewidmet, die von der Poum (Partido obrero de unificación marxista), der vereinigten marxistischen Arbeiterpartei, herausgegeben wurde. „Sozialistische Revolution oder Faschismus“ war eine ihrer Losungen. Die Poum wurde 1937 von dem Bündnis aus Stalinisten und bürgerlichen Republikanern verboten, viele ihrer Mitglieder ermordet.

Gezeichnet sind alle Bilder der Ausstellung, alle Pamphlete und Gegenpamphlete nach den gleichen künstlerischen Maßgaben und damit fern billiger stilistischer Polemik. Camilo Berneri, ein Wissenschaftler und Vorgänger Toni Negris, wird genauso distanziert auf das A4-DDR-Blatt gebracht wie der Falange-Schwulst eines Rafael Sanchez Mazas. Bryce kann in seiner Kunst durch die Auswahl der Motive Anstöße geben, interpretieren muss man sie selbst.

Wer sich allerdings ein bisschen mit den Grundkonflikten von Gesellschaften beschäftigt, wird feststellen, dass viele der Konflikte noch anwesend sind. Bryce hat einen Weg gefunden, in Bildern darüber zu sprechen, ohne die Geschichte dabei einfach aktualisieren zu wollen. Die Vorgänge bleiben historisch, aber eben darin bedeutsam. „Spanien, das war schließlich der letzte Versuch in Europa, eine Revolution anzufangen“, so Bryce. Eine nicht ganz nebensächliche Tatsache und eben auch ein Thema für die Kunst.

Bis 7. 9., Galerie Marlborough, Madrid. Ein Buch mit Zeichnungen von Fernando Bryce (96 S.) ist 2003 im Berliner Verlag Thumm & Kolbe erschienen und kostet 25 Euro.