: Ratlos in Magenta
Nach der Niederlage im Mannschaftszeitfahren muss das Team T-Mobile um Jan Ullrich erkennen, dass es mit dem Rücken zur Wand steht. Ein Plan, wie das zu ändern ist, scheint nicht existent
AUS ARRAS SEBASTIAN MOLL
Als die paar dutzend deutschen Journalisten nach dem Mannschaftszeitfahren des vergangenen Jahres in der Landpension „La Bonne Source“, dem Domizil des Teams Bianchi irgendwo in der Provinz Marne, eintrafen, wartete Rudy Pevenage schon auf der Terrasse. Nach einem kurzen Handy-Telefonat kam auch Jan Ullrich aus seinem Zimmer herunter, setzte sich mit den Journalisten um ein paar hastig zusammengeschobene Campingtische und plauderte gelöst über die Freude, mit der improvisierten Truppe nur 43 Sekunden auf Lance Armstrong verloren zu haben. Es war eine sternenklare Sommernacht damals.
Am Mittwoch, im tristen Nordwesten Frankreichs, hingegen goss es wie aus Kübeln. Und als die Presse sich am Abend im Viersternehotel „Golf d’Arras“ versammelte, bekam sie zwar Häppchen gereicht, aber keinen Jan Ullrich zu sehen. Der wollte sich wohl lieber nicht zu den beinahe eineinhalb Minuten äußern, die sein Star-Ensemble auf den 64,5 Kilometern zwischen Cambrai und Arras langsamer war als Armstrong. Stattdessen ließ Ullrich durch den sportlichen Leiter der Mannschaft, Mario Kummer, ausrichten, dass das Team „unter den Umständen“ ihr Bestes gegeben habe. Mit den Umständen waren die heftigen Regenfälle gemeint, die Pannen von Rolf Aldag und Giuseppe Guerini sowie der frühe Ausfall von Sergej Iwanow. Über Ullrichs Gemütszustand wollte sich der Sportdirektor indes lieber bedeckt halten. „Ich kann mir vorstellen, dass ihn das wurmt“, sagte er, fügte jedoch an, „ich will damit aber nicht sagen, dass das auch so ist.“
In der Analyse des Renngeschehens und den Schlussfolgerungen daraus blieb die Mannschaftsführung von T-Mobile ähnlich vage. Mit einem so großen Rückstand habe man nicht gerechnet, gaben Kummer und Team-Chef Walter Godefroot zunächst zu. Allerdings habe man nach dem Prolog schon geahnt, dass es wohl zum Sieg gegen Armstrongs Mannschaft nicht reichen werde. Das dürfe man nicht falsch verstehen, fügte Godefroot allerdings hastig an, selbstverständlich wolle man immer gewinnen. Nur könne man gewisse Dinge eben nicht voraussagen.
An mangelnder Vorbereitung, schob Godefroot nach, habe es jedenfalls nicht gelegen, man sei im Windkanal gewesen und habe auch sonst alles Nötige getan. Die Antwort auf die Frage, warum denn Armstrongs Team dennoch so überlegen war, relativierte dann jedoch die Behauptung, beim Mannschaftszeitfahren komme es darauf an, wie gut ein Team eingespielt sei. Von Armstrong weiß man, dass er schon im Januar beginnt, das Formationsfahren zu üben. Walter Godefroot hingegen sagte noch beim Prolog in Lüttich: „Was soll ich im Januar trainieren, wenn ich erst im Juni die Aufstellung weiß?“. Das ist einerseits nicht von der Hand zu weisen, doch andererseits kennt Armstrong die Aufstellung eben schon im Januar.
Ebenso wie sich Armstrong das ganze Jahr lang den Kopf über seinen Schlachtplan für die Tour zerbricht. Bei T-Mobile herrschte nach dem Mannschaftszeitfahren hingegen Ratlosigkeit, wie mit dem Rückstand nun umzugehen sei. Erst mal, sagte Mario Kummer, wolle man sich nun bis zu den Bergen durchschlagen, und dann schauen, wer in der Mannschaft noch Kraft habe. Und dann sei da ja noch das Einzelzeitfahren am vorletzten Tag der Tour, in dem Ullrich bekannt stark sei. Bis dahin werde man auf eine Schwäche von Armstrong warten.
Zu guter Letzt glitt die Strategiedebatte im Hotel am Golf-Platz von Arras sogar ins Philosophische ab. Kummer bemühte sich, den Begriff der Schwäche zu dekonstruieren, und verfiel dabei auf die Dialektik: Eine Schwäche sei, wenn der Gegner Stärke zeige. So gesehen hatte T-Mobile freilich beim Mannschaftszeitfahren einen wirklich schwachen Tag.
Derweil saß Rudy Pevenage, der bei T-Mobile ungelittene Privatcoach von Ullrich, bei einem Bier an der Hotelbar und dachte sich seinen Teil. Im vergangenen Herbst hatte Pevenage gesagt, man müsse versuchen, die Kraftverhältnisse gleich zu Beginn der Tour umzukehren und Armstrong unter Druck setzen, anstatt wie immer selbst mit dem Rücken zur Wand zu agieren. Seither, so Pevenage, sage er Kummer zwar regelmäßig seine Meinung. „Was er dann macht, ist aber seine Entscheidung. Er ist der Chef.“ Kummer hat den Job, den Pevenage nicht mehr wollte. Nach dem Zeitfahren von Arras wurde klar, warum Pevenage für diesen Betrieb nicht mehr arbeiten mag.