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Archiv-Artikel

„Kerry wird keine Politik machen, die den Europäern gefällt“, sagt Charles A. Kupchan

Auch George W. Bushs Herausforderer wird außenpolitisch niemals nur mit Zustimmung der UNO handeln

taz: Herr Kupchan, knapp zwei Jahre nachdem Bush seine außenpolitische Doktrin verkündete, werfen ihm selbst Konservative Scheitern vor. Ist sie bereits gestorben?

Charles A. Kupchan: Es ist zu früh, sie für tot zu erklären. Sie lebt möglicherweise momentan unterschwellig weiter, wie eine latente Krankheit, und kann jederzeit wieder ausbrechen.

Wann?

Nach einem schweren Terroranschlag zum Beispiel. Doch vorerst müssen wir anerkennen, dass die Bush-Regierung ihren Kurs geändert hat, zumindest temporär. Dafür gibt es folgende Gründe: Die unerfreuliche Situation im Irak erfordert Pragmatismus. Das US-Militär operiert an seiner Kapazitätsgrenze und ist auf Hilfe von außen angewiesen. Innenpolitisch ist Bush wahlkampfbedingt unter Druck. Sein Herausforderer John Kerry wirft ihm vor, die USA isoliert und Partner verprellt zu haben.

Hat nun Neorealismus den Neokonservativismus verdrängt?

Ich zögere noch, ob sich eine bestimmte Ideologie durchsetzen wird. Die Situation innerhalb der Bush-Regierung ist sehr instabil und durch interne Richtungskämpfe zwischen Weißem Haus, Pentagon und Außenamt unübersichtlich. Ob die Neokonservativen endgültig den Rückzug antreten ist gegenwärtig noch ungewiss.

Nimmt man jedoch nur die wichtigsten Säulen der Bush-Doktrin, dann ist es unwahrscheinlich, dass die USA so schnell einen weiteren Präventivschlag wagen werden.

Das ist richtig. Doch trotz eines wachsenden Realitätssinns ist nicht erkennbar, wodurch die alte Politik ersetzt wird. Es gibt keine kohärente Strategie, die nach dem Desaster im Irak Konturen bekommt. Vor den Wahlen wird sich daran nicht viel ändern. Auch innerhalb der Regierung wartet man ab, ob Bush überhaupt gewinnt und wenn ja, wer in seinem Kabinett verbleibt. So viel steht jedoch fest: Selbst wenn Bush wieder ins Weiße Haus einziehen sollte, scheint es derzeit unmöglich, ein erneutes Abenteuer von der Dimension des Irakkrieges zu beginnen. Selbst das konservative Amerika würde ihm hierzu die Gefolgschaft versagen.

Der Irakkrieg hat Amerikas internationaler Stellung enorm geschadet. Was bedeutet dies für die nahe Zukunft der US-Außenpolitik?

Die amerikanische Macht bleibt zwar auf ihrem Höhepunkt. Zugleich sind geopolitischer Einfluss und Legitimität der USA auf einem Tiefpunkt. In den vergangenen Wochen konnten wir die Folgen bereits beobachten, vor allem in der Weigerung der Nato, Soldaten in den Irak zu entsenden.

Wenn Bush die Wiederwahl gelingt, welchen Manövrierspielraum besitzt er noch?

Sehr wenig in Europa und Nahost. Hier verfügt er kaum noch über politisches Kapital. In Ostasien stellt sich die Situation anders dar. Die US-Beziehungen zu China und Japan sind so gut wie lange nicht.

Was würde ein Regimewechsel im Weißen Haus bewirken?

Für den Anfang erwarte ich eine lebhafte Wiederannäherung zwischen der EU und Washington. Doch alsbald würde sich jenseits des Atlantiks Ernüchterung breit machen. Selbst Kerry wird nicht in der Lage sein, eine Politik zu gestalten, die sich die Europäer von der Supermacht wünschen …

da auch er verkündet hat, bei der Verteidigung von US-Interessen notfalls im Alleingang zu handeln?

Ja. Das ist die Realität hierzulande nach dem 11. September. Es ist jedoch auch Teil unserer politischen Kultur und Geschichte. Ein US-Präsident wird niemals sagen: Wir agieren nur mit Zustimmung der UNO. Darüber hinaus befinden wir uns inmitten eines tief greifenden politischen Wandels, den Bush nur stellvertretend symbolisiert. Die überparteiliche gesellschaftliche Koalition, die das Fundament für unseren moderaten zentristischen Internationalismus bildete, existiert nicht mehr. Selbst ein Präsident, der sich dem Multilateralismus verpflichtet fühlt, benötigt diese Überparteilichkeit, um entsprechend zu regieren.

Sie meinen, die enorme Polarisierung von Politik und Gesellschaft wird in Zukunft auch eine moderate Außenpolitik immer schwerer machen?

Die Spaltung des Landes in zwei schon fast feindliche Lager macht es jedem Präsidenten schwer, dem politischen Gegner die Hand zu reichen und einen überparteilichen Konsens herzustellen, wie es zuletzt Franklin D. Roosevelt während des Zweiten Weltkrieges vermochte, der dann bis in die Neunzigerjahre andauerte. Heute verorten sich immer weniger Menschen in der politischen Mitte. Der Grund: Jene, die den Weltkrieg erlebten oder während des Kalten Krieges aufwuchsen, sterben aus. Sie hatten oft ein internationales und transatlantisches Verständnis. Dies trifft für junge Amerikaner nicht mehr zu. Zudem verliert das liberale Establishment, das im europäisch orientierten Nordosten der USA seine Heimat hat, an Einfluss. Die Bevölkerung wächst vor allem im religiös-konservativen Süden und Südwesten, und damit das politische Gewicht dieser Region. Dort ist das Befürfnis nach Isolation besonders ausgeprägt. Meine Sorge ist, dass der Irakkrieg als Mission einer radikal-konservativen Strömung nun ironischerweise den konservativen Abschottungstrend verstärkt und jeglichen internationalen Einsatz, also auch humanitäre, in Verruf gebracht hat.

INTERVIEW: MICHAEL STRECK