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Archiv-Artikel

„Träume sind unser Größtes“

In zwei Wochen erscheint „Der Augenblick der Liebe“, der neue Walser. Ein Gespräch über brüchiges Selbstbewusstsein, Winnetous Umarmbarkeit und den Marienkomplex

VON JÖRG MAGENAU

Martin Walser, der Schriftsteller vom Bodensee. Besonderes Kennzeichen: Heimatverbundenheit. Der Eindruck ist allerdings nur teilweise richtig. Denn die andere Hälfte seines Lebens ist Walser unterwegs. In Spitzenzeiten kam er auf zweihundert Reisetage jährlich. Vermutlich gibt es inzwischen kaum einen Ort in Deutschland, den er noch nicht besucht hätte, um dort zu lesen. Der ICE – erste Klasse oder Speisewagen – gehört zu seinen häufigsten Aufenthaltsorten. Und natürlich Hotels. Am liebsten übernachtet er in den ganz großen Schachteln, die auf jede Gemütlichkeitssimulation verzichten. Je anonymer, desto besser, dann stört auch nichts.

In Berlin ist folglich das Hotel Maritim geeignet, direkt gegenüber dem Bahnhof Friedrichstraße. Dort sitzt Walser, 77, an einem eher trüben Vormittag im Foyer und blättert im Romanmanuskript eines befreundeten Autors. Er wirkt, als habe er schon die ganze Nacht dort gesessen. Es sei spät geworden gestern, entschuldigt er sich beim Interviewer. Man müsse erst mal sehen, ob er überhaupt gesprächsfähig sei. Wir gehen in die Bar, wo außer uns zu dieser frühen Stunde niemand etwas trinken will. Ein passender Ort für ein Gespräch über die Liebe und die Literatur.

taz.mag: Herr Walser, die Titel Ihrer Bücher lassen eine besondere Affinität zum Wort „Liebe“ erkennen. 1976 erschien „Jenseits der Liebe“, 2000 dann „Der Lebenslauf der Liebe“. Ihr neuer Roman, der Ende des Monats erscheinen wird, heißt „Der Augenblick der Liebe“. Fürchteten Sie nicht, mit diesen Liebes-Titeln in Trivialitätsverdacht zu geraten?

Martin Walser: Solche Überlegungen sind mir fremd. Wenn ein Titel nach meinem Gefühl für ein Buch passt, dann nehme ich ihn. „Jenseits der Liebe“ musste so heißen, das war ganz klar, und das ist ja auch nicht trivial. Da ging es um das Erloschensein von allem, was Liebe heißen kann, in einem berufsscheußlichen Alltag. „Der Lebenslauf der Liebe“ ist das Unterwegssein zur Liebe oder der Weg von der Liebe weg. Im neuen Roman geht es darum, dass es Augenblicke der Liebe gibt, die hervorgehoben sind, die aber wieder durch andere Augenblicke konterkariert werden, die auch Liebe heißen und die mit den ersten Augenblicken überhaupt nicht zu vereinbaren sind. Das ist eben so. Das muss man hinnehmen. Das lässt sich nicht ausräumen. Das ist ein Widerspruch, der in uns liegt. Die drei Vorkommen des Wortes „Liebe“ sind völlig unterschiedlich. Sie mit Ihrem groben Betriebsblick müssen natürlich sagen, das ist trivialitätsverdächtig – für mich ist es das nicht.

Schon in Ihrem ersten Roman von 1957, „Ehen in Philippsburg“ ging es um Liebesverhältnisse, auch wenn Sie damals als „gesellschaftskritischer Autor“ wahrgenommen wurden. Kann man sagen, die Liebe in all ihren Erscheinungsformen ist Ihr eigentliches Lebensthema?

Das stammt nicht von mir: gesellschaftskritischer Autor. Das ist das, was Leute wahrnehmen. Leute nehmen ja immer wahr, was ihnen entspricht, und nicht, was dem Wahrgenommenen entspricht. Wenn ich sagen müsste: Liebe ist mein Lebensthema, wäre mir unwohl. Das ist doch blöde. Das wäre gerade so, wie wenn Sie fragen: Brauchen Sie Sauerstoff? Und ich sage: Ja, Sie haben Recht, ich brauche Sauerstoff.

Ist „Gesellschaftskritik“ und „Liebe“ ein Gegensatz? Bedeutet Liebe als etwas Privates einen Verlust an Gesellschaftlichkeit, oder ist sie eine soziale Kompetenz?

Das sind alles Wörter, die weitab von mir liegen. Sagen wir so: Der Roman – ich glaube alle Romane, aber meine ganz sicher – sind ein Ausdruck der Schwierigkeit, Selbstbewusstsein zu erringen und zu bewahren. Nichts anderes. Da finden Sie Ihre Themen sofort unter einem Hut. Schon als Zwölfjähriger, lange vor dem Berufsleben, ist man durch die Pubertätserfahrungen großen Gefährdungen ausgesetzt. Ich habe mein Selbstbewusstsein von Anfang an als ein problematisches erlebt, das mir von der Welt nicht ohne weiteres zugestanden wird. In Karl-May-Romanen habe ich gefunden, wie sich Stärke gegenüber der Gefahr manifestiert. Old Shatterhand mit seinen Gewehren besiegt seine Gegner. Dann ist ihm wieder wohl. Die, die er besiegt, sind böse. Also hat er ein Recht, sie zu besiegen. Der Held von Karl May ist mühelos erfüllt von unangreifbarem Selbstbewusstsein. Er ist immer auf der rechten Seite, er macht taktische Fehler und kassiert mal eine Niederlage, aber er besitzt ein ungefährdetes Selbstbewusstsein. Das macht es für das Kind so rasant und so toll, dass man immer auf der richtigen Seite ist. Dann gibt es aber auch Winnetou, der die Liebe besorgt für Old Shatterhand. Winnetou darf man lieben.

Das heißt, es gibt auf der einen Seite Selbstbewusstsein als Pol und auf der anderen Liebesfähigkeit?

Die Liebesfähigkeit Winnetous nennt man vielleicht nicht unmittelbar Selbstbewusstsein, aber seine Umarmbarkeit gehört zum Lebensgefühl von Old Shatterhand. Er sagt: Du bist mein Bruder. Die Herzlichkeitsgewissheit gehört zur Bildung des Selbstbewusstseins dazu. Für den Zwölfjährigen im wirklichen Leben gibt es die Schule, Freunde, vielleicht die Straße und das Elternhaus. In der Schule gibt es Noten als Erfolgs- oder Misserfolgsbestätigungen, die am Selbstbewusstsein nagen oder es preisen. Und daneben entwickelt es sich genauso auf der Straße und mit den Mädchen am Abend. Es geht um nichts anderes als darum, geliebt zu werden und dass ich gut bin in den Leistungen.

Kommt das Liebesbedürfnis also eher aus einem brüchigen Selbstbewusstsein, aus dem Wunsch, beim Anderen etwas zu finden, das einem selbst fehlt?

Ich finde das viel zu definitionssüchtig, was Sie da sagen. Da wird doch überhaupt nicht analysiert. Da wird zugegriffen in jede Vergeblichkeit hinein, in jedes Nichtversprechen oder Versprechen hinein. Wenn ich einen Aufsatz in der Schule geschrieben habe, dann war das genauso, wie wenn ich zu einem Treffen mit einem Mädchen ging, mit dem ich verabredet war. Ich wollte jedes Mal einen Einser. Von dem Mädchen und von dem Lehrer. Ob ich ihn bekam oder nicht, das hat sich auf mein Selbstbewusstsein ausgewirkt.

Das ist ja richtiges Marktverhalten!

Wieso brauchen Sie denn immer ein soziologisches Wort? Das ist doch ein Gefühlsverhalten. Ich will es konzentrieren. Ich will es auf die eine Seelenstelle lenken, wo das Selbstbewusstsein sich bildet. Dass da nicht zwei getrennte Herzkammern sind, sondern eine Stelle: Selbstbewusstsein. Sie kann ernährt werden durch Leistung oder durch Liebe. Darum geht es immer.

Aus Ihren Romanen lässt sich ablesen, wie sich die Liebesverhältnisse verändert haben. 1957 hat man anders geliebt als 1968 oder 2000.

Das glaube ich nicht.

Das zeigen aber Ihre Romane.

Ich merke davon nichts.

„Ehen in Philippsburg“ ist ein Roman, der die Verhältnisse der 50er-Jahre und des Wirtschaftswunders beschreibt. Die Ehe wird als bürgerliche Institution im Stadium ihres Niedergangs beschrieben. Alle Philippsburger Ehen sind hochgradig verlogen und fassadenhaft.

Das muss ich zugeben. Es gibt kein anderes Buch von mir, in dem Liebe so von gesellschaftlichen Umständen abhängig ist. Dieser Hans Beumann will sich etablieren und macht einen peinlichen Liebesfehler. Der wird dann auch nicht mehr behoben, oder?

Er heiratet eine Tochter aus einflussreichem Haus, weil er in die Gesellschaft der Stadt hineinkommen will. Im Roman „Der Sturz“ von 1973 taucht er noch einmal auf. Seine Gattin ist fett geworden, und er endet mit Selbstmord.

Heilandzack, ja! Schrecklich. Aber das geschieht ihm recht. So wie den Beumann habe ich keinen Helden mehr behandelt. Da habe ich die gesellschaftlichen Bedingungen siegen lassen über die Figur. Später wird es viel schlichter. Etwa bis zu „Das fliehende Pferd“, da heißt es, die Helden müssen Geld verdienen. Das wirkt sich weniger aus als die bürgerlichen Formalitäten in „Ehen in Philippsburg“. Anselm Kristlein fährt durch diese Bedingungen wie durch Slalomstangen. Der weiß nur, er will Geld verdienen, aber er lässt sich nicht kleinkriegen. Er wehrt sich. In einem Roman wie „Seelenarbeit“ ist die gesellschaftliche Bedingung des Helden dann wieder profilgebender als seine Beziehung zu seiner Frau. Xaver Zürn ist Chauffeur. Wenn er seine Herrschaften fährt, sitzt vorne der Direktor und hinten die Frau Direktor. Die sieht er im Rückspiegel, diese Frau, die alles, was zwischen 50 und 60 ist, wegschminken und wegliften will. Im Gesicht seiner eigenen Frau, Agnes, blühen dagegen die Jahre. Da hält er einen begeisternden inneren Monolog über seine Agnes. Das finde ich immer noch eine sehr schöne Stelle, die ich gerne vorgelesen habe. Der gesellschaftliche Druck in diesem Roman ist sehr stark. Nachts liegt der Xaver wach und denkt an seinen Chef, aber er weiß, der Chef denkt nicht an ihn. Das ist auch eine enttäuschte Liebe. Ganz sicher. Das Selbstbewusstsein muss eben vielfach ernährt werden. Am Ende lasse ich das Ehepaar wie zwei Felder in der Sonne nebeneinander liegen. Das ist meine Sucht, dem Negativen auszuweichen und Romane erträglich enden zu lassen.

Im „Einhorn“ bekommt Anselm Kristlein den Auftrag, einen Roman über die Liebe zu schreiben. Er scheitert an der Aufgabe. Er stellt fest, keine Sprache dafür finden zu können.

Ja? Das stellt er fest? Wenn ich mich daran erinnere, erinnere ich mich an etwas anderes. Ich erinnere mich daran, dass er einen irren oder verzweifelten oder grotesken Versuch macht, mit Hilfe von Sprache seine Frauen in eine einzige zu bringen.

Also seine Ehefrau und seine Geliebte.

Dass Sie so ein Wort ertragen! Die Orli ist doch nicht seine Geliebte, sie ist seine LIEBE! Durch Orli macht er eine alles vorläufige Benennungswesen entkräftende Erfahrung. Und am Schluss macht er aus Orli und Birga – Orga. Das ist eine Kunstfigur. Eine Sprachschöpfung. Das heißt: Es gibt dafür keine irdische Statt, nur den Roman!

Was ist es, was sich in der Wirklichkeit nicht vereinbaren lässt? Wofür stehen die beiden Frauen?

Die stehen für nichts als für sich selbst. Die sind keine Repräsentanten von etwas. Die Orli ist nur die Orli. Natürlich kann man sagen, sie ist eine exotische Erscheinung, verglichen mit seiner Birga. Das eine ist die Wirklichkeit, das andere die Vorstellung. Beides geht nur in Wörtern zusammen. Das macht die Schriftstellerei aus, finde ich.

„Das Einhorn“ erschien 1966, in einer Zeit, als mit der Studentenbewegung auch die Liebesverhältnisse zum Politikum wurden. Damals hieß es: Das Private ist politisch. Was hielten Sie davon?

Das ist Blödsinn. Dann kann man genauso gut sagen, es gibt nichts Privates. Es gibt keine Wohnung, durch deren Wände nicht andauernd alles Öffentliche durchflutet und die Leute mehr oder weniger glücklich oder unglücklich macht. Umgekehrt haben seriöse Intellektuelle, Diskursfürsten, mir 1998 vorgeworfen, in welcher Sprache ich in der Paulskirche, bei der Friedenspreisrede, über die nationale Beschwernis gesprochen habe. Sie warfen mir vor, das Politische zur Privatangelegenheit gemacht zu haben. Weil sie denken, dass eine Sprache erwartbar bis vorgeschrieben sei, wenn man an diesem Ort zu dieser Zeit über dieses Thema spricht. Aber dann ist es sinnlos, zu sprechen. Es gibt keine eingeführte Sprache, deren ich mich bedienen kann. Dann kommt ein Gerhard-Schröder-Text dabei heraus. Als Bundeskanzler kann ich mir jede Textglätte leisten, da werden die Leute diese zehn Minuten überstehen. Ich als Schriftsteller kann nur auftreten, wenn ich ich selber zu sein versuche. Das nennen die dann privat. Da haben Sie die Umkehrung: Das Politische ist privat. Das wäre doch der gleiche Unsinn. Für einen Autor gibt es diese Einteilung nicht. Die gibt es ja auch nicht in der Liebe.

Formeln sind immer blöd, aber sie sind manchmal als prägnante Verkürzung notwendig. 1968 ging es doch um etwas, darum, die erstarrten bürgerlichen Ordnungen auch in den privaten Beziehungen aufzubrechen.

Aber das schafft man nicht mit derselben Formelhaftigkeit! Es gab damals einen Fachmann fürs Erotische: Günter Amendt. Ich konnte seine Bücher nicht aufblättern. Ich kann in diesem Vokabular nichts erfahren. Ein anderer, der damals wichtig war: Wilhelm Reich. Für mich war das null. Langweilig. Da wird der Versuch gemacht, alles in einem bestimmten Vokabular Recht haben zu lassen. Da war mir zu wenig Naturwissenschaft drin. Als ich noch etwas jünger war als die damals, hat mich alles Physiologische interessiert. Und alles Neurochemische. Da habe ich mich umgeschaut. Aber nicht im gesellschaftlichen Vokabular fürs Erotische. Mein Aufwachsen, Älterwerden, Erwachsenwerden habe ich in diesen Vokabularen nicht untergebracht. Ich habe sogar am heiligen Freud keine Freude gehabt. Ich weiß noch, wie ich meinen ersten Zwist mit Habermas hatte. Es war nach einer Lesung von mir, etwa 1980, da sind wir auf Freuds „Traumdeutung“ gekommen. Als ich sagte, ich hätte Freud „instinktiv abgelehnt“, konnte Habermas nur breitseitenhaft polemisch reagieren. „Instinktiv?!“ Um Gottes willen! Damals hatte ich noch keine eigenen Versuche oder Erfahrungen im Umgang mit Traummaterial. Inzwischen habe ich das und kann nur sagen, wie richtig ich meine instinktive Abwehr dieses technischen, instrumentalisierenden, pseudosprachlichen Umgangs mit Träumen finde. Ich bin gegen das Übersetzen von Träumen. Ich glaube nicht an eine Traumarbeit, wo etwas übersetzt werden muss, weil man es sich nicht gestattet. Dass man aus bürgerlichen Sowiesogründen Schamhaare in ein Bahnhofswäldchen verwandelt. Nein. Träume sind deutlich. Ich träume sowohl ganz direkt wie vollkommen fantastisch. Aber nie undeutlich.

Träume sind eine Art Erzählung?

Die Zusammenfügungskraft von Träumen ist das Wildeste, was es gibt. Man kann Schriftsteller sehr gut danach beurteilen, wie sie Träume aufschreiben, was sie bieten als Traum. Vergleichen Sie mal den Traum bei Robert Walser im „Jakob von Gunten“, und schauen Sie im „Zauberberg“ den Schneetraum an, wo es ganz am Schluss heißt, glaube ich: „Ja, trefflich geträumt. Das haben wir gut hingekriegt.“ Man weiß inzwischen, dass dieser Traum nach einem Jugendstilbild gemacht worden ist. In Goethes „Wilhelm Meister“ – da bin ich jetzt philologisch nicht sicher – gibt es einen Traum, den finde ich handwerklich-technisch das Schwächste am ganzen „Wilhelm Meister“. Da brennt ein Haus und so weiter. Das ist wie präpariert für Freud. Im Grunde genommen ist diese Art von Umgang mit dem Traum ein bürgerliches Bühnenbild, mit dem man die Wirklichkeit auf das billigste verstellt. „Jakob von Gunten“ ist dagegen ein ganz wilder Traum. Träume dürfen nicht aufgehen. Dazu gehört aber die Fähigkeit, aufzupassen. Das Tagesbewusstsein am Morgen neigt dazu, die Träume verständlicher zu machen, als sie sind. Diese wilde Schnittfolge von kreuz und quer flutenden Bildern! Das geht so schnell. Und dann lässt man weg, was man nicht unterkriegt, und schon hat man eine verständliche Geschichte. Ich glaube, dass die Leute an ihren Träumen sündigen. Träume sind unser Größtes. Unser Unausschöpfbares. Die Szenen, die Scheußlichkeiten, die Großartigkeiten sind durchflutet von Wirklichkeitskommandos und Erfahrung. Der Traum geht wüst um mit diesen Wirklichkeitskommandos und bringt sie zu einer allerhöchsten Deutlichkeit, die keiner Deutung bedarf. Das ist für mich das Wichtigste.

Eine ganze Reihe Ihrer Romane beginnt damit, dass die Helden morgens im Bett erwachen und das Aufstehen bewältigen müssen. Mühsam finden sie in den Tag, weil das bedeutet, wieder in der Gesellschaft funktionieren zu müssen.

Das ist der simpelste Vorgang. Darum geht es. Gottlieb Zürn hat sogar einmal das Gefühl, er stünde auf dem Kopf beim Aufwachen. Er steht natürlich nicht auf dem Kopf.

Ihre Romanhelden sind stets verheiratete Männer, die eine oder mehrere Geliebte haben und die unterschiedlichen Verhältnisse ausbalancieren müssen. Die Ehe genügt ihnen nicht, obwohl sie unverheiratet verloren wären. Was ist das Ungenügende an der Ehe? Und warum geht es ohne Ehe nicht?

Gut. Also. Wenn Sie das so schicksalhaft präsentieren: Ich habe mal einen Aufsatz über Frauenstimmen bei Richard Strauss geschrieben. Desaströser kann es nicht zugehen als in den Frauenrollen der großen Opern des 19. Jahrhunderts. Bei Verdi und Wagner müssen die Frauen alle untergehen, verrecken, vergiftet werden, sich umbringen, ihm nachsterben und so weiter. Dann kommt der Strauss und lässt diese Frauen singen und überstehen. In seiner Oper „Ariadne auf Naxos“ geht es in der Arien-Orgie der Zerbinetta um das Naturrecht der Frau auf Untreue. Ebenso in „Helena“. Bei Homer entführt Paris die Helena nach Troja. Sie geht begeistert mit ihm mit, verlässt ihren Mann Menelaos, vergisst glatt ihre Tochter Hermione. Es folgt der Krieg, Menelaos zieht mordend durch Troja, säbelt alles nieder. In der letzten Palastkammer kauert Helena und hat schon ein schlechtes Gewissen. Sie denkt, der säbelt jetzt auch sie nieder, denn sie war ja zehn Jahre das Weib von einem anderen, hat nicht nur mit Paris geschlafen, sondern auch mit dessen Bruder.

Zweihundert Jahre nach Homer haben Stesichoros und nach ihm Euripides die Geschichte neu erfunden. Demnach entführte Paris nicht die wirkliche Helena, sondern eine Imitation. Die wirkliche Helena kam nach Ägypten zu so einem Edel-Wilden, Edel-Exoten. Da konnte der Menelaos sie abholen. Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal wandeln das um. Was Menelaos bei ihnen zu singen hat, ist Kindergarten. Das sind simple Sätze. Helena aber muss ihm klar machen, dass sie trotz dieser zehn Jahre jetzt sein Weib ist. Das singt sie unglaublich. Da merkst du, der Strauss will uns dahin bringen, dass wir das akzeptieren. Das ist ähnlich mit der Zerbinetta. Sie singt: „Und manchmal waren es zwei.“

Der Ödipuskomplex wäre viel realistischer, wenn man ihn Marienkomplex genannt hätte. Die Männer, die diese Kultur gegründet haben, stellen sich lieber eine jungfräuliche Geburt und Zeugung vor, als eine wirkliche Frau, die man nicht besitzen kann. Es ist doch wahnsinnig, was die Maria bei uns für eine Rolle spielt. Sie ist uns lieber, denn sie hat keinen anderen. Die habe ich ganz für mich. Deshalb ist mir Ihre auf den Mann zielende Frage zu eng.

Aber in keinem Ihrer Zürn- oder Kristlein-Romane gibt es eine Szene, in der der Mann mit der Untreue seiner Frau konfrontiert wäre.

Da bin ich mir jetzt nicht ganz sicher. Wahrscheinlich ist das aus der männlichen Perspektive so dargestellt, aus dieser Kultur, dieser Überlieferung. Diese Männer brauchen ihre Frauen so dringend für ihr Gesamtselbstbewusstsein, dass die Frauen kein Eigenleben neben dem Mann haben. In „Halbzeit“ gibt es ein Tagebuch von der Birga, da steht ein bisschen was davon drin. Im „Lebenslauf der Liebe“ ist das ganz einfach. Die beiden haben sich getrennt.

Da ist es sowieso anders. Susi Gern und ihr Edmund haben ein Arrangement, bei dem Untreue zur Vereinbarung gehört.

Trotzdem ist es leidvoll. Das ist nicht hinzukriegen. Es gibt kein Arrangement, keine friedliche Vereinbarung. Susi Gern hat ja nun wirklich alles probiert. Sie ist auf das Arrangement ihres Mannes eingegangen und versucht selber, mit vielen Männern das zu realisieren und genauso zu leben wie ihr Mann. Und leidet und leidet. Und nachher heiratet sie einen 29 Jahre jüngeren Mann. Da kann sie nur noch leiden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieses Verhältnis zur Ruhe kommen kann. Weil Sie das vorhin so genannt haben – die Ehe hier und da die Geliebte …

Man kann es ja auch anders nennen: Dauer und Erneuerung als zwei Bedürfnisse, die sich nicht zusammenbringen lassen.

Auch Dauer muss ernährt sein, im Sinne von ermöglicht werden. Sie muss glaubhaft gemacht werden können. Sich selbst und dem anderen gegenüber. Davon handeln alle Bücher.

Sie lassen Susi Gern sagen: „Liebe – bis jetzt hieß das immer, auf sich selber verzichten, um dem anderen nicht wehzutun.“ Ist das ein brauchbarer Satz?

Das ist auf jeden Fall Liebe. Ich weiß nicht, ob es alles ist, sicher nicht, aber das ist nicht die unwirklichste Form ihres Vorkommens. Man weiß ja nicht, worauf man verzichtet, wenn man auf sich verzichtet. Auf jeden Fall ist das eine schöne, idealistische Vorstellung. Das hätte sie von ihrem Mann gerne gehabt, dass er so operiert hätte. Sie sagt, und da bin ich ganz auf ihrer Seite, dass sie Glück immer als Unglücksglück empfunden hat. So wie es beim „Meßmer“ einmal heißt, dass man den Schmerz als vierte Kunst erleben können sollte und vielleicht sogar kann, nach Dichtung, Kunst und Musik. Der Schmerz als vierte Kunst. So gibt es kein Glück ohne Unglück.

Das klingt, als müsse man die Unauflösbarkeit der Widersprüche hinnehmen. Kann man denn in Liebesdingen gar nichts dazulernen? Ist Liebe eine Erfahrung, bei der es nichts nutzt, sie fünfzigmal zu machen?

Fünfzigmal – das ist doch Unsinn! Das wird in jedem Leben vollkommen anders sein, aber man wird doch Casanova nicht für einen Liebenden halten. Der ist ein Affärenvirtuose. Das ist etwas anderes. Ich weiß nicht, ob man etwas lernen können soll. Das Leben ist nicht verbesserbar. Es gibt überhaupt nichts zweimal, also ist auch nichts zu lernen. Schauen Sie, Gottlieb Zürn, dieser Kerl im neuen Roman, zuerst denkt er: Nichts wie hin zu Beate. Dann: Nichts wie zurück zu Anna. Dann wieder: Nichts wie hin. Und wenn es da nicht zu spät wäre, weiß der Teufel, was da noch passiert wäre. Er ist nicht belehrbar.

Das ist wie eine Pendelbewegung.

Ja. Aber das glaubt man nicht. In dieses böse Bild will man sich nicht fassen. Wäre es so, könnte man sich ja tragen lassen. Man ist aber jedes Mal ganz entschlossen, ganz genötigt, ganz hin. Und dann wieder das Gegenteil. Im Roman pressiert das. Mit Fleiß. Das will so dargestellt sein.

Der Altersunterschied zwischen Gottlieb Zürn und der mehr als dreißig Jahre jüngeren Beate spielt dabei eine erstaunlich geringe Rolle.

Er spielt eine große Rolle, ich bitte Sie! Das Mädchen kann ihm nicht erklären, warum sie ihn liebt. Er stellt sich vor, wie furchtbar das für sie ist, ihn anschauen zu müssen. Diese Gedanken nehmen mit dem Alter zu. Das muss Ihnen wenigstens abstrakt vorstellbar sein. Was wir am Anfang gesagt haben: Es gibt Leute, die von einer Siegesszene in die nächste wanken. Weil sie sich unanfechtbar fühlen. Unter allen Umständen. Einer mit Selbstbewusstsein, der fühlt sich geliebt. Andere haben es schwerer. Unter den Konstellationen, mit denen ich es im „Augenblick der Liebe“ zu tun hatte, ist das Warum der Liebe problematisch. Und das ist ein Selbstbewusstseinsproblem.

JÖRG MAGENAU, geboren 1961 in Ludwigsburg, lebt als freier Autor in Berlin